ZAUBERLEHRLING

münchen/berlin, 2. dezember 2016   —   Carlo Ancelotti ist ein „Erfolgstrainer“. So etwas kann man nicht lernen. Oder doch?

Der Italiener aus Reggiolo hat sich das Siegen beigebracht, weil er den Champions genau zugesehen hat.

Nun ist er selbst ein Vorbild für die, die es nach ganz oben schaffen wollen. Kapitel seiner bisherigen Biographie tragen die Überschriften „Verlieren lernen“, „Den Sturm abreiten“ oder „Kein Fest fürs Leben“.

Carlo Ancelotti hat viel „Gras fressen“ müssen. Nun sieht es bei ihm manchmal so aus, als würden ihm gebratene Tauben in den Rachen fliegen.

Ist nicht so. Das Siegen will erarbeitet sein. So hat es Ancelotti schon begriffen, als er noch in kurzen Hosen den Dienst bei AC Mailand tat (Auszug aus “CARLO ANCELOTTI – DIE BIOGRAPHIE”, erschienen 2016 im Riva Verlag).

 

Es gibt ein Foto aus der Glanzzeit des AC Mailand. Da hat Arrigo Sacchi seine Leute aus der Ersten Mannschaft um sich versammelt. Die Spieler tragen orangefarbene Trikots, weiße Stutzen und schwarze kurze Hosen. Sie sitzen auf dem Rasen haben die Beine angewinkelt und lassen den Coach dozieren. Sacchis Hemd ist orangefarben, die Stutzen weiß – die Turnhose auch. Er steht da, kritzelt mit Kreide etwas auf eine Schülertafel und sieht recht streng aus, wie er sich da auf die Taktik konzentriert. Ein professore mit weißem Haarkranz und Denkerfalten auf der Stirn.

Ruud Gullit – ein Genie auf dem Platz mit Rebellentum in den Genen – sitzt ganz links hinten, besieht sich seinen Ausbilder und kann ein anarchisches Grienen nicht unterdrücken. Red’ Du nur, heißt das wohl.

Paolo Maldini – charismatischer Abwehrrecke mit AC-DNA (seit er zehn ist, gehört er zum Verein) – ist mit den Gedanken irgendwo, nur nicht auf dem Trainingsgelände. Der schöne Italiener mit den langen Haaren und Eroberer-Augen bohrt sich gedankenverloren in der Nase. Reden Sie nur, Trainer!

Carlo Ancelotti kauert in der ersten Reihe. Er hat den Rücken gerade, sieht schräg von unten zu der Schiefertafel in Sacchis Hand. Ein sehr ernsthafter Student ist er, einer, dem nichts von dem entgeht, was Signore Sacchi zu sagen hat.

Mit dem „Grande Milan“ gewinnt er unter anderem zweimal den Europapokal. Und nach den Endspielen ist Carlo Ancelotti einer der Ersten, die auf den Trainer zu rennen.

„Sacchi hat das Rezept des neuen Fußballs gehabt. Sein 4-4-2 war – nach meiner Einschätzung jedenfalls – die einzige Art, modernen Fußball zu spielen.“

Der Trainer, den Silvio Berlusconi aus der zweiten Reihe rekrutiert hat, optimiert unter anderem die konsequente ballorientierte Raumdeckung und mit der Abschaffung des Liberos auch die Viererkette. Sacchis Raumdeckungskonzept setzt fort, was die Holländer angefangen hatten.

Mit Pressing wird der Raum, den der Gegner zum Spielen hat, extrem reduziert. Und die verteidigende Mannschaft beginnt, sich als Einheit in Richtung Ball zu verschieben. Und nicht mehr nur einem Gegner hinterherzulaufen.

Sie üben das in Mailand bis zum Erbrechen. Immer wieder versammelt Sacchi die Spieler um sich und bläut ihnen das neue System ein. Auch die „Diven“ müssen spuren.

Nicht selten winkt der Trainer ab, wenn die Bälle aus den Netzen entpackt werden sollen. Er will, dass seine Hochleister sich das System auch ohne Spielgerät vorstellen. Also verschieben sie die Räume, läuten in Formationen Angriffe ein, richten sich zur erfolgreichen Verteidigung ein.

Kiebitze reiben sich dann die Augen: Da rennen Fußball-Millionäre in wilder Aktivität über den Platz – aber es fehlt der Ball, der einen Sinn fürs Ganze ergibt. Ein Scout von Real Madrid sieht eine solche Trainingseinheit und berichtet nach Hause: “Sie haben ein Spiel gemacht mit elf Mann über das ganze Feld, ohne Gegner und ohne Ball.”

Schlüsselspieler für Arrigo Sacchi ist Carlo Ancelotti. Der „Neue“ wird zunächst zur zentralen Figur im Mittelfeld. Er hat die „Aufsicht“ über bemerkenswert weitläufige Zonen rund um den Anstoßpunkt. Sacchi formt rund um den umsichtigen Ancelotti ein Bollwerk im Mittelfeld, aus dem die Angriffe wie Überfälle über den Gegner rollen.

Sacchis Verteidiger operieren vielfach mit Elementen wie Deckungsschatten und Passwegbedrohung. Manndeckung? Das ist gestrig. Die Mailand-Verteidiger kleben nicht mehr an ihren Stürmern. Altgesottene Trainer haben den Defensivspielern beigebracht, sie müssten ihrem Gegenspieler gegebenenfalls bis auf die Toilette folgen. Sacchis Haben den Raum unter Kontrolle.

Aber Sacchis Philosophie ist keineswegs nicht die Fortsetzung des italienischen Mauerfußballs früherer Jahre. “Ich will bei eigenem Ballbesitz immer fünf Mann vor dem Ball haben. Und es muss immer ein Spieler den linken und den rechten Flügel besetzen. Aber das kann eben jeder sein, es müssen nicht immer die gleichen Leute sein.”

Das ist eine spielerische Philosophie, die da in Mailand verinnerlicht wird. Sacchi sagt: „Ich schicke meine Spieler aufs Feld, um den Menschen 90 Minuten Freude zu bereiten. Diese Freude soll nicht nur vom Gewinnen kommen, sondern daher, dass man unterhalten wird und etwas Besonderes zu sehen bekommt.“

Das ist leicht untertrieben. Denn Mailands Trainer weiß, dass er mit seinem „Orchester“ ein unwiderstehliches Fortissimo anzettelt. Die Mailänder wollen siegen, siegen, siegen.

Und im Endeffekt geht es um den perfekt vorbereiteten Angriff.

Im Spielaufbau ist es dann wieder Ancelotti, um den sich vieles dreht. Er lässt mit seinen Bewegungen das Spiel nach rechts oder links kippen, er treibt die Attacke durch die Mitte. Was er auch tut – die Mitspieler kennen die Winkelzüge und machen sich auf die Socken: nach links, nach rechts, durch die Mitte.

Mechanisch, präzise, abenteuerlich schnell funktioniert diese Maschinerie. Das Kollektiv Gullit, Ancelotti, Maldini und Co. bewegt sich in wundervoller Choreographie. Fachleute schwärmen: „Es ergeben sich automatisch gefährliche Konstellationen. Gullits diagonale Bewegungen erzeugen ein Dreieck mit dem herausgekippten Ancelotti. Baresi füllt die Lücke. Die fluide, makrotaktische Ausrichtung in Kombination mit dem intelligent mikrotaktischen Einzelspielerverhalten generiert eine Ballzirkulation ohne abruptes Abstoppen.“

Das kann man auch anders sagen:

Der AC Mailand des Arrigo Sacchi überollt an guten Tagen alles. Der Trainer führt Regie in einem großartigen Stück, das alle Beteiligten bis über die Grenzen hinaus belastet.

Arrigo Sacchi im Rückblick:

“Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball.”

Berlusconi kauft weitere teure Hochleister ein, darunter Frank Rijkaard, der mehr und mehr die Aufgaben des Carlo Ancelotti übernehmen muss. Ancelottis Körper mag nicht mehr – er ist nicht gebaut für ein lange Aktiven-Karriere.

Aber er ist eben der intelligente Fußball-Besessene, der weiß, wann er die Seiten zu wechseln hat. Und Arrigo Sacchi kümmert sich um seinen treuen Vasallen. Bei Mailand bespricht man diese Dinge mit dem mächtigen Herrn Berlusconi, dann lädt man den jungen Carlo zum Essen ein. Das Angebot liegt irgendwann zwischen bistecco und formaggio auf dem Tisch – und es ist so durchdacht, dass man sich beim Grappa die Hände geben kann.

Und, schwupps, ist Carlo Ancelotti der Assistent des Arrigo Sacchi.

So geht im Märchen die Fabel vom Zauberlehrling.

 

Der Kontakt ist wunderbar geblieben.

Vor großen Spielen klingelt häufig Sacchis Telefon – der Schüler, der selbst längst ein Meister ist, holt sich taktischen Rat.

So auch 2014, vor dem Halbfinale in der Champions League mit Real Madrid gegen den FC Bayern. Die Münchner sind Titelverteidiger und haben unter Pep Guardiola bis dato einen irren Lauf.

Carlo Ancelotti seinerseits macht bei Real einen erstaunlichen Job. Alvaro de la Rose, Experte für Ancelottis Ex-Club Real Madrid bei der spanischen Zeitung „As“, erinnert sich: „Er war ein Trainer, der nicht nur die schwierigste Kabine der Welt gezähmt, sondern es obendrein noch geschafft hat, dass diese Mannschaft ihn vergötterte. Der Italiener gehört jener Trainerschule an, die nicht allzu viel von der Peitsche hält. Während seiner Zeit bei Parma und Reggina traf er sich mit seinen Spielern zum Pizza essen. Und als er dann zu Madrid kam, verschwand der militärische Mourinho-Ton und machte Platz für gute Laune.“

Ancelotti also ruft bei seinem Mentor Sacchi in Italien an und lässt sich briefen.

Dann brieft er seine Jungs – die gewinnen das Hinspiel zuhause mit 1:0. Vier Tage später laufen sie in München auf und machen die Bayern platt. 4:0. In München bricht die erste kleine Krise der Guardiola-Ära an. Und mancher fragt sich, ob dieser Ancelotti mit seiner netten Art nicht auch eine Option wäre. Man hat ja schon einmal 2009 über ihn nachgedacht, als es bei Jürgen Klinsmann nicht so rund lief. Aber damals entschied man sich letztendlich für den Hollander Louis van Gaal.

Naja, war letztlich auch nicht das ganz Gelbe vom Ei.

 

 

Eines der Telefonate der Gespräche zwischen Sacchi und Ancelotti drehte sich übrigens nicht nur um Viererketten und Verschieben im Raum. „Er selbst hat mir anvertraut, dass er die große Hoffnung hatte, von den Bayern berufen zu werden“, sagt Sacchi 2015. „Jetzt wird er sich mit den Hürden der deutschen Sprache auseinandersetzen müssen, was nicht einfach ist.“

Aber ansonsten? Es gibt kaum einen Besseren, fügt der weise Altmeister hinzu. „Carlo ist der perfekte Trainer. Intelligent und sehr menschlich. Er stellt sich voll in den Dienst des Vereins und prägt eine Mannschaft zutiefst. Wie wenige andere hat er ein Talent als Psychologe, was ihm erlaubt, bestens mit den Spielern umzugehen. Das bezeugt seine Erfahrung bei Real, wo jeder Spieler eine Primadonna ist.“

Er habe immer hart gearbeitet. Aber die Kunst sei es eben auch, dass die harte Arbeit nicht mehr zu spüren ist, wenn man die Mannschaft geformt habe und sie aufs Feld schicke. „Sein Führungsstil ist sanft, nicht diktatorisch. Carlo Ancelotti gibt keine Befehle – er überzeugt. Er hat die Gelassenheit, alles bereits gewonnen zu haben. Zumeist mehrfach. Man könnte Carlo elf Torhüter hinstellen, und er würde mit ihnen gewinnen.“

Und was ist jetzt? Jetzt wollen sich die Münchner erstmal bis zur Winterpause „durchwurschteln“, wie der Ober-Bayer Uli Hoeneß jüngst erklärt hat. Ist das der FCB, der unter Ancelotti den ganz großen Coup landen will?

Klar.

Mit dem Mann darf man von ultimativen Erfolgen träumen. Zumal er schon ziemlich passabel Deutsch spricht. Carlo Ancelotti ist im Plan. Der Mann weiß, wann abgerechnet wird.

Morgen: Die Wurzeln