ÜBRIG GEBLIEBEN

scheisszeitenwende   20

Rund ums Altersheim tobt ein Wintersturm. Wenn die automatische Eingangstür sich öffnet, jagen Blätter an der Rezeption vorbei ins Haus. Sie kommen in den Ecken zur Ruhe und legen sich aufs Linoleum. In einem Rollstuhl dämmert eine sehr alte Frau, sie atmet ganz flach und hat die Augen geschlossen. Auf der anderen Seite des Gangs sitzt ein Mann. Er beobachtet alles um sich herum ohne Anzeichen von Rührung.

Er sitzt hier jeden Tag. Der Pfleger schiebt ihn morgens an seinen Platz und holt ihn zur nächsten Mahlzeit ab. Abends wird der Mann ins Bett gelegt, morgens gewaschen und an seinen Platz gerollt. Besuch bekommt er nicht, schon lange nicht mehr. Er kauert an seinem Platz und scheint zu lauern – manchmal folgt er den Vorbeigehenden ein Stück mit den Augen, dann lässt er sie ziehen. Nur seine Augen leben – er ist wie eine Echse, der man nicht trauen mag.

Rolf Schimpf hat schlechte Laune. Missmutig lässt er sich an dem Echsen-Mann und der sterbenden Alten vorbei schieben. In der Cafeteria guckt er die Bedienung feindselig an.

„Was wollen Sie trinken? Bier? Wasser? Kaffee?“

Rolf – der einmal ein berühmter Schauspieler und ein eleganter Kavalier gewesen ist – schweigt.

Sie beugt sich zu ihm herunter – sie ist blond und war einmal eine begehrte Frau, jetzt zerfrisst der Alkohol das letzte bisschen Schönheit – und fragt, ob er Kuchen wolle. Ganz nah ist sie an seinem Ohr, sie hat etwas Zärtliches in der Stimme:

„Mögn’s an Kuchen, Herr Schimpf?“

Er bewegt den Kopf kaum. Aber es reicht, um sie zu erschrecken. Sie zuckt zurück.

Er bekommt den Kaffee. Trinkt ihn gierig und böse aus. Er lässt sich zu seinem Zimmer zurück fahren. Er lässt sich beim Toilettengang helfen, ins Bett bringen. Liegt auf dem Rücken, zieht die Decke ans Kinn, fummelt das Hörgerät aus dem Ohr.

Jetzt erreicht ihn niemand mehr.

Rolf Schimpf, 99, hadert mit der Welt.

Man hat ihn einfach vergessen an diesem gottverlassenen Platz, wo alles erstirbt.