SPAZIERGANG

scheisszeitenwende 22

Das Bayern-Land erstickt im Nebel, oben am Berg lasert sich die Sonne durch die Fichten. Noch ein paar Dutzend Schritte durch den Wald, dann eine Wiese, dann eine Alm.

Sonne. Blendendes Morgenlicht. Wärme.

Die Alpinisten ziehen die nassen Hemden aus, streifen trockene über, setzen sich auf eine Holzbank und machen Brotzeit. Der Eine studiert die Karte. Das werde noch anstrengend, heute. Oben habe es Schnee.

Ja, sagt der Freund. So sehe er das auch. „Aber bis jetzt war es schön. Das war ja ein Spaziergang.“

Genau. Ein Spaziergang.

Dann reden sie vom SUV, den sich einer aus dem Dorf angeschafft hat. Von der Krise der Bayern. Und dass sie bald wieder grillen werden – das werde wohl nichts mehr mit dem Winter, heuer.

Hernach packen sie ihre Sachen in die Rucksäcke und marschieren weiter. Sie schreiten rüstig aus.

Bisher war’s ja nur ein Spaziergang.

 

„Spaziergang“ – das klingt schön. Harmonisch. Bisschen Händchen halten und nett plauschen. Das klingt nach friedlichem Leben.

 

Am Würmsee (heute: Starnberger See) ist Ludwig II., der Märchenkönig, nach offizieller Version am 13. Juni 1886 auch spazieren gegangen. Der „Märchenkönig“ hatte sich mit seinen teuren Schlösserbauten verzockt, jetzt sollte er entmündigt werden. An besagtem 13. Juni wollte der Leibarzt Doktor Gudden Seine Majestät noch ein bissl Gassi führen. Man machte also einen „Spaziergang“. Hernach war der König tot. Offizielle Version: ertrunken. Königstreue lassen sich nicht irre machen: Erschossen ist der Ludwig worden, von hinten in den Rücken.

 

Ja, diese „Spaziergänge“ in den Voralpen. 1939 hatte Adolf Hitler den italienischen Außenminister Galeazo Ciano zu Gast auf dem Obersalzberg. Wie gewohnt schlief der Führer aus, aß um drei Uhr zu Mittag und machte sich dann mit seinem Gast auf den Weg zum Teehaus.

Die Entourage Hitlers war erleichtert. Man mochte den „Spaziergang“ am Nachmittag nicht. Im Teehaus hielt Hitler allnachmittäglich die gleichen eineinhalbstündigen Monologe. Da konnte man schon einmal einnicken. Manchmal, so notierte Albert Speer, wurde auch der vortragende Hitler von der Müdigkeit übermannt. Das war dann ein wenig peinlich.

Diemal freilich bekam es der italienisch Gast ab. Hitler schnarrte auf dem Weg zum Teehaus auf Ciano ein. Er möge bitte den Mussolini recht schön grüßen und ihm ausrichten, in ein paar Wochen gehe es los. Dann würden die deutschen Truppen erst einmal Polen plattmachen, danach seien die Russen dran. Tja, man habe einiges vor in den nächsten Jahren. Also, schöne Grüße an Benito – und, psst: Maul halten!

Den Nachmittag hat Galeazo nicht mehr vergessen.

 

Jetzt hat es wieder so einen „Spaziergang“ gegeben. Am Polarkreis. Seltsame Geschichte.

Der Gefangene Alexej Nawalny habe eine pogulka unternommen. Danach sei ihm schlecht geworden. Jetzt sei er tot.

So die Aufpasser.

„Die Schergen und Präsident Putin haben meinen Mann umgebracht.“

So Julia Nawalnaja, die Witwe des unbrechbaren Regimegegners.

Die Leiche bekommt sie nicht zu sehen.

Nur die Erklärung:

„Es war bei einem Spaziergang.“

Und alle, alle in der Welt – auch in der freien – schreiben mit. Es war eine pogulka – und dann: zack!

Wir stellen uns also die letzten Minuten des Häftlings Nawalny vor. „Komm‘ Genosse, es ist Zeit zum Spazierengehen.“ Nawalny zieht sich was Warmes an, er tritt ins Freie und atmet tief ein. Die gute sibirische Luft. Minus 15 Grad. Bald wird es wieder schneien. Grauer Eishimmel über dem Lager „Polarwolf“. Nawalny macht seine tausend Schritte für die Gesundheit, die Pulsuhr ist ein bisschen irritiert. Ist wohl doch keine gute Idee gewesen, der Spaziergang?

 

Ja. Genau so ist es gewesen.