KRISE? SCHMARRN!

berlin/münchen, 1. dezember 2016   —   Es ist wie ein Pawlow’scher Reflex: Kaum bleibt beim besten deutschen Fußballverein, dem FC Bayern München, der ganz triumphale Erfolg aus, da wird auch schon die große “Krise” herauf beschworen. Und die “Fachleute” spüren auch in Windeseile gern den Trainer als den Verursacher aller Probleme auf. Das erlebt nun der Italiener Carlo Ancelotti, der noch vor einem Monat als bester Coach der Welt und als der Münchner Fußball-Gröfaz angebetet worden ist. Nun schnurrt er im “Spiegel” zum “Papa Bär” zusammen – und nichts scheint mehr geblieben von dem Trainer-Guru. Was für ein Schmarrn! Ancelotti grantelt ein bisschen vor sich hin und macht nach Masterplan weiter. So hat er es immer getan. Rückblick in die frühen Tage – schon da hat sich angedeutet, dass er ein Meister seiner Zunft werden würde (Der Auszug ist dem 2016 im Riva Verlag erschienen Buch “Carlo Ancelotti – Die Biographie” entnommen).  

 

1987 – Ancelotti ist 28 – holt ihn der knorrige Arrigo Sacchi zum AC Mailand. Das ist ein wenig verwunderlich: Sacchi ist gerade von Silvio Berlusconi für viel Geld eingekauft worden. Er könnte mithilfe seines spendablen Arbeitgebers den Markt abräumen. Da werden ja viele junge Talente gehandelt. Doch einen Teil des Geldes gibt Sacchi für diesen Ancelotti aus. Der spielt noch als alternder Mittelfeld-Kämpe solide und aufopfernd in Roms Diensten. Aber der Jüngste ist er nicht mehr und hat außerdem Knieprobleme.
Wo ist denn da die Perspektive?
Arrigo Sacchi weiß genau, was er tut. Er ist selbst nur ein halbwegs begabter Abwehrspieler gewesen, und alle glaubten, er würde auf Lebzeit Schuhverkäufer in der väterlichen Fabrik bleiben. Doch er wusste schon als Schüler (und er ist ein schlauer Schüler gewesen): Entweder werde ich Dirigent oder Filmregisseur. Oder ich schaffe es als Fußballtrainer.
Die Aktivenzeit hatte bald ihr Ende, danach schlug sich Sacchi einige Jahre in unteren Ligen als Trainer durch. Mit 32 wechselte er ins Profilager. Rimini. Parma. Florenz. Der Mann machte mit lockeren Sprüchen („Ich weiß, dass ich gut bin, denn man hat mir gesagt, dass Kollege Liedholm meint, ich sei gut – und wo er Recht hat, hat er Recht“) und sportlichen Husarenritten auf sich aufmerksam. Als er schließlich gar den AC Mailand aus dem Pokal wirft, wird es Silvio Berlusconi zu bunt: Er kauft sich den Sacchi.
Und der hat nichts Besseres zu tun als diesen Ancelotti aus Rom zu holen. Viele greifen sich an den Kopf, aber Sacchi ist sich seiner Sache sehr sicher. Er braucht in diesem Ensemble von Megastars einen „Dirigenten“ auf dem Feld. Einen, der seine revolutionären Ideen versteht.
„Ich brauche keine brillanten selbstverliebten elf Einzelspieler, der eigentliche Leader ist das Spiel selbst. Und das ist eine Lehre für die Zukunft: Kein Scheich wird jemals das Zusammenspiel einer Mannschaft kaufen können. Er kann die besten Individualisten und erfolgreichsten Spieler versammeln, aber eine Spielidee kann nur durch Inspiration, Konzentration und Fleiß entwickelt werden. Das Spiel ist nicht käuflich.“
Das Talent ist im Fall Ancelotti zweitrangig. „Wichtiger waren Professionalität und Einsatzbereitschaft. Talent kann das Produkt, das man im Kopf hat, noch veredeln. Aber es kann die Idee nicht ersetzen. Robert De Niro ist ein ausgezeichneter Schauspieler. Aber er kann nicht so spielen, wie es ihm gefällt, sondern er muss dem folgen, was im Drehbuch steht. Ich war derjenige mit dem Drehbuch und erkannte im Training, ob ein Spieler eine Sekunde zu früh oder zu spät loslief, ob er zu nah oder zu weit vom Nebenmann stand, ob er den Ball nach vorne oder nach hinten spielen sollte. Wir simulierten ständig den Ernstfall und probten, was am Sonntag passierte.“
Denn hier setzt Sacchi an. Er hat eine neue Mannschaft im Kopf, neue Spielertypen, ein bisher ungekanntes Fußballverständnis der Akteure.
„Fußball beginnt nicht in den Beinen, sondern im Kopf. Bei meiner Auswahl habe ich immer Profis bevorzugt, die den Sinn des Spiels verstanden haben. Technische und körperliche Fähigkeiten muss ich voraussetzen, der Grad seiner Spielintelligenz entscheidet dann über die eigentliche Qualität des Profis.“
Ancelotti erinnert sich noch sehr genau an den Tag, an dem Trainer Sacchi den verblüfften Profis erklärt, sie sollten doch mal über sinnloses Gerenne auf dem Platz nachdenken. Das könne man sich auch leichter und fürs Team effektiver machen
Sacchi doziert, dass fünf Spieler mit guter Organisation zehn Spieler ohne Organisation schlagen jederzeit könnten.
Häh?
Im Ernst, er würde es ihnen beweisen. Sacchi stellte Torwart Galli plus die Verteidiger Tassotti, Costacurta, Baresi und Maldini in ein Team. Dagegen sollten Gullit, Van Basten, Rijkaard, Virdis, Evani, Ancelotti, Colombo, Donadoni, Lantignotti und Mannari anrennen.
Die zehn Akteure bekamen 15 Minuten Zeit, um gegen Sacchis fünf Mann ein Tor zu machen. Die einzige Regel für die Angreifer war, dass sie bei Ballverlust wieder in der eigenen Hälfte beginnen mussten.
Sie rannten und hetzten durch die gegnerische Hälfte. Sie versuchten es mit Steilpässen und Seitenwechseln. Doppelpässe, Soli-Einlagen.
Die Verteidiger machten ihrerseits die Räume dicht und warteten auf Fehler. Sie bewegten sich wie eine Einheit – Hauptsache, der Ball kam nicht zu oft in die Nähe ihres Tors.
Arrigo Sacchi behielt Recht: 15 Minuten lang blieb Gallis Kasten sauber.

Morgen: Grande Milan