UND DOCH!

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Krohn notiert, 13. August

Ob der Achternbusch noch lebt? Zuletzt habe ich ihn gesehen – da schaute er nicht gut aus. Hockte vor seinem Bier, glotzte in die Wirtschaft, erkannte keinen mehr, hatte auch nicht mehr viel Diridari für die nächsten Biere. Gezittert hat er und ungepflegt war er.

Aber der höhnische Lippenschwung war ihm geblieben.

Der Achternbusch hat es mit dem Leben aufgenommen. Und er hat sich lange wacker gehalten. Einem aufdringlichen Kulturdeppen aus der Journaille hat er auf die Frage, wie es ihm gehe, gesagt:

„Jetzt mag ich nicht mehr malen, mir fällt nichts mehr ein. Ich habe kein Geld für einen Film. Schreiben tue ich auch nicht mehr, nicht einmal mehr Briefe. Da bin ich ganz widersetzlich. Jetzt muss ich noch das Fliegen lernen, damit ich bis zur nächsten Häuserzeile komme und nicht gleich auf die Straße falle, falls ich mich mal umbringen will.“

Ist das noch der Achternbusch, der sich mal so beschrieben hat?

„Ich musste 1938 auf die Welt kommen, nachdem ich mir meine Eltern schon ausgesucht hatte. Meine Mutter war eine sportliche Schönheit vom Land, die sich nur in der Stadt wohlfühlte. Mein Vater war sehr leger und trank gern, er war ein Spaßvogel. Kaum auf der Welt, suchten mich Schulen, Krankenhäuser und alles Mögliche heim. Ich leistete meine Zeit ab und bestand auf meiner Freizeit. Ich schrieb Bücher, bis mich das Sitzen schmerzte. Dann machte ich Filme, weil ich mich bewegen wollte. Die Kinder, die ich habe, fangen wieder von vorne an. Grüß Gott!“

Ja, das ist der Gleiche. Universalgenie. Film. Buch. Malen. Theater. Breznverkäufer auf der Wiesn. Bürgerschreck. Selbstdarsteller und Selbstverkäufer. Säufer. Untergänger. Wiederaufsteher. Langsam-Sterber. Weiter-Macher.

Das ist der, der 1976 „Die Atlantikschwimmer“ gedreht hat. Da stehen Herbert und Heinz am Meeresufer und wollen weg, aber es fehlt ein Schiff. Herbert, gespielt von Achternbusch selbst, blickt in die Ferne und meint: „Du hast keine Chance, aber nutze sie!“ Er steigt angekleidet ins Wasser und schwimmt los. Hier endet der Film.

Achternbuschs Name steht auf einem Blatt Papier. Neben anderen. Patti Smith. Hermann Buhl. Ioan Ivaneca. Annamirl Buchlechner. Robert Peroni.

Habe sie gestern notiert. Im Haus war es still, auf Youtube lief die Musik von Fanfare Ciocarlia, eine Zigeuner-Band aus Rumänien. Karftstrotzende gwamperte Mannsbilder mit zerbeulten Blechblas-Instrumenten. Eine Musik, die niemals aufzuhören scheint. Sie reißt die Menschen mit, hat einen mächtigen Sog. Es ist die Band, die Ioan Ivaneca gegründet hat.

Ivaneca. Achternbusch. Peroni. Smith. Buchlechner. Buhl. Frauen und Männer, die nie aufgegeben haben und nicht aufgeben.

Die brauche ich jetzt als Begleiter. Ich rufe sie auf – dann werden sie am Wochenende beim „Mauerlauf“ auf mich aufpassen.  

Herrmann Buhl schreibt 1953 in seinem Tagebuch bei der Expedition zum Nanga Parbat, bis dato unbestiegen:

„Erstmals Sicht auf dem Gipfelplateau, Vorgipfel weit hinten. Es wird furchtbar heiß, kein Wind. Bei 7500 m Wendepunkt, plötzlich ganz schlaff, muss mich nun gewaltsam weiterraffen. Bei 7700 m lasse ich den Rucksack zurück in der Meinung, abends wieder hier zu sein. Unheimlicher Durst und Hunger, nur Dörrobst und das geht nicht hinunter. 2 Tabletten Pervitin. Enorme Wächte, ganz hart, dann steiler Felsgrat.“

Hier enden die Tagebuchaufzeichnungen. Am Abend des 3. Juli steht Hermann Buhl nach einem 17-Stunden-Solo auf dem Gipfel des Nanga Parbat.

Dann der Abstieg. Buhl in „Achttausend und drüber“:

„Man hat das Gefühl, über allem zu schweben, in keinem Zusammenhang mit der Erde zu stehen, losgelöst von der Welt und der Menschheit… Die Sonne senkt sich hinter einer Bergkette, und im Nu wird es empfindlich kalt… Ich will nur wieder ins Tal, zu den Menschen, ins Leben… In überraschend kurzer Zeit ist es gänzlich finster… Der Stand bietet beiden Füßen Platz. Ich muss mich wohl oder übel damit begnügen, ziehe alles an, die Wollhaube über die Ohren, die Kapuze tief über den Kopf, zwei Paar Handschuhe, alles dicht verschlossen… Fast gleichgültig sehe ich dieser Nacht in 8000 Meter Höhe entgegen… Da fällt mir das Padutin ein. Ein kreislaufförderndes Mittel, ein Schutz gegen Erfrierungen. Fünf dieser kleinen Pillen würge ich hinunter… Dann nimmt mich die Größe dieser Nacht gefangen… Der letzte Stern verblasst – es wird Tag. Die Füße sind wie Holzklumpen, die Schuhe gefroren… Ich beginne wieder zu klettern… Nur langsam, im Schneckentempo… Ich muss wohl hingefallen, eingeschlafen sein… Will mich erheben, es geht aber nicht. Es ist also aus. So ist das Ende… Aber der Lebenswille ist noch nicht erloschen… Um sieben Uhr abends, 41 Stunden, nachdem ich den Platz verlassen hatte, trete ich in die Nähe des Zeltes.“

Patti Smith. Große Künstlerin. Eine, die nicht aufgibt.

Der Fotograf Robert Mapplethorpe, ihr engster Vertrauter und früherer Geliebter, stirbt 1989 an Aids. Ihr Ehemann Fred „Sonic“ Smith, Musiker der legendären Band MC5, Vater ihrer beiden Kinder, stirbt 1994 nach einem Schlaganfall. Ihr Bruder, früher ihr Tourmanager, stirbt vier Wochen später an einem Herzinfarkt.

In den Jahren zuvor sterben Freunde und Kollegen. „Der Schriftsteller Jim Carroll, Janis Joplin, Jim Morrison, mein Gott, wenn ich einmal anfange, sie alle aufzuzählen, finde ich kein Ende.“

Mapplethorpe und sie sind mit Andy Warhol zu einem Lunch verabredet, den Warhol kurzfristig absagt. Wenig später stirbt er. Sie erinnert sich genau, dass es an seinem Todestag plötzlich anfing zu schneien in New York, „der Himmel war weiß, die Straßen waren weiß. Es war, als ob die ganze Stadt um ihren Sohn trauerte, und natürlich nicht in Schwarz, sondern in Andys Lieblingsfarbe, ganz in Weiß.“

Nach dem Tod des Bruders steht Patti Smith vor dem Nichts. Die Krankenhausrechnungen ihres Mannes waren hoch, und sie verdient praktisch nichts, bis auf gelegentliche Tantiemen für alte Platten. „Mir ist es unfassbar schlecht gegangen“, sagt sie. „Ich bin ein unabhängiger Mensch, aber das war die einzige Zeit in meinem Leben, in der ich Hilfe von außen angenommen habe.“

Patti Smith lebt immer noch, sie denkt, sie lacht, sie kämpft, sie singt. Sie hört nicht auf. Da ist sie wie Peroni.

Robert Peroni. Südtiroler. Studiert Medizin, Psychologie und Archäologie. Erobert mit spektakulären Expeditionen die Welt. Hoher Hindukusch. Naomidwüste (Südafghanistan) im Alleingang. Dann 1983 die Erstdurchquerung des grönländischen Inlandseises an seiner breitesten Stelle zusammen mit den Landsleuten Pepi Schrott und Wolfgang Thomaseth. 88 Tage, 1400 Kilometer, keine Hilfsmittel und Versorgungsdepots. Eines Tages sind sie so zermürbt, dass sie morgens nicht mehr aufstehen. Peronis Nase ist an der Zeltwand angefroren. Einer sagt „Wenn wir schon sterben, dann wenigstens nicht hungrig“. Sie essen – und machen weiter. Sie kommen ans Ziel und überleben.

Heute ist Peroni ausgezehrt, halb blind und taub – aber er mag seine Tage.

Da ist er wie die Annamirl Buchlechner. Sie lebt bei Dachau und bringt die ganze Sippschaft durch. In einem Seniorenheim kümmert sie sich um alte Menschen (die Bewohner lieben die Annamirl, weil sie immer ein liebes Wort oder eine kleine Frivolität für sie hat). Sie bekommt beschämend wenig Geld, aber sie klagt nicht. Die Heimbetreiber sind Verbrecher, das weiß sie, aber deswegen müssen doch die alten Menschen nicht leiden.

Weil das Geld nicht reicht, geht die Annamirl putzen. Eine 70-Stunden-Woche hat sie und sie muss viel Scheißdreck verräumen. Aber würde sie deshalb lamentieren?

Nein, tut sie nicht.

Sie setzt sich, todmüde, aber immer noch fidel, vor den Fernseher, schaut „Traumschiff“, trinkt eine Halbe und raucht ein paar. Und sie sagt: „Das Leben ist schon in Ordnung so. Du musst es halt mögen.“

Da ist Frau Buchlechner, wie der Joan war. Er hat’s ausgekostet. Als er 2006 – er war nicht ins Klinikum gegangen mit seinem Krebs, er wollte sein Haus nicht mehr verlassen – im Sterben lag, hat ihm seine Frau die Klarinette bringen müssen. Dann hat er sein Requiem selbst geflötet.

Zu dieser Zeit war er in der Welt bekannt als der Chef von Fanfare Ciocarlia, einer Ziegeuner-Band, die rund um den Globus die Häuser füllt.

Zehn Jahre zuvor haben nicht viele den Joan aus dem Roma-Dorf Zece Prajini gekannt. Zur Welt kam er in dem westmoldawischen Ort in einem bitterkalten Januar 1940. Sein Vater war im Krieg – und weil er auch noch in den Gulag kam und erst sieben Jahre später erst wieder heimfand, hat sich der Filius die Klarinette vom Papa geschnappt und das Spiel selbst beigebracht.

Er hat alles überstanden: Den Kommunismus. Die Maloche im Stahlwerk. Die Kleinhäuselei zuhause. Den Zusammenbruch des Kommunismus. Die Not der neuen Zeit.

Als Bauer hat er sich mit der neunköpfigen Familie durchgeschlagen. Am Wochenende verdienten sich die Freunde und er mit Auftritten bei Hochzeiten oder Partys etwas Kleines dazu. Man hat sie geliebt in der Umgebung.

Aber sie hatten keine Chance auf ein besseres Leben.

Sie spielten und sangen, weil ihnen danach war, das zu feiern, was für sie übrig war.

Dann kam ein deutscher Tontechniker ins Land und fragte nach guten Musikern. Man sagte, es gebe diese Zigeuner aus diesem Dorf, das auf keiner Karte eingezeichnet sei. Die machten Musik, obwohl keiner Noten lesen konnte. Die Texte hatten sie aufgeschnappt, die Melodien auch. Sie waren nicht mal bis Bukarest gekommen – dennoch war ihre Musik angeblich wundervoll grenzensprengend.

Ivaneca und seine Männer wurden entdeckt. Jetzt sind sie berühmt.

Als der Chef 2006 das letzte Lied für sich auf der Klarinette spielte, hatte er noch nie etwas von einem Kauz namens Achternbusch gehört.

Und doch sind sie Geschwister im Geiste, die Beiden und die Annamirl, der Robert, die Patti und der Herrmann:

Du hast keine Chance, aber nütze sie.

In diesem Geiste:

Mauerlauf.