UND?

ENDZEIT 15 Ein guter Stift. Satter schwarzer Strich, das Schreiben geht weich von der Hand. Ein wenig ungewohnt ist es, Hohenleitner hat in den letzten zwei – nein, es waren drei – Jahren außer ein paar gekrakelten Unterschriften und ein paar aus Langeweile gelösten Kreuzworträtseln nicht mehr geschrieben. Es hat ihm immer einen Stich gegeben, wenn er Menschen sah, die etwas notierten, ausfüllten, aufs Papier fabulierten. Er war neidisch auf Leute mit Büchern. Einmal war der rechte Bügel seiner Billig-Brille abgebrochen, die Reparatur mit Draht half nicht. Ein halbes Jahr hatte er sich mit der halben Brille durchgeschlagen, dann reichte es ihm und er leistete sich eine neue – das war im Winter.

Danach war es bergauf gegangen. Er hatte sich an den öffentlichen Bücherschränken am Nordbad, in der Au oder der Maxvorstadt bedient und sich das Lesen wieder beigebracht. Romane waren seine Favoriten. Ein paar Wochen trug er ein einbändiges Konversationslexikon mit sich herum, das er von der ersten bis zur achthundertvierzigsten Seite aufmerksam studierte. Er hatte sich mit „Menschen im Hotel“ in ein Früher hinein geträumt. Im Augenblick ist „Warten auf die Aras“ sein treuer Begleiter. Das Buch hatte er – nahezu ungelesen – an der Schwanthalerhöhe aufgestöbert.

Er hatte den Band aus dem Regal gezogen, die ersten Seiten überflogen – und eingepackt. Er hatte Sätze gelesen, die ihm etwas sagten.

Dieses Buch handelt vom Aussterben. Es wurde im kalten Morgengrauen einer Zeit geschrieben, die neuerdings als die sechste große Welle des Massensterbens bezeichnet wird. – Alle zwei Wochen geht der Welt eine ganze Sprache verloren. Man rechnet damit, dass bis Mitte dieses Jahrhunderts die Hälfte der fünftausend Sprachen der Welt mit all ihren Liedern und Geschichten vergessen sein wird. – Eine dunkle Wolke der Gleichheit zieht über der Welt auf. – Die einfache These dieses Buches lautet, dass alle Formen des Aussterbens miteinander zusammenhängen.

Alois hat begonnen zu lesen, er hat „Warten auf die Aras“ in einer Woche zu Ende gebracht. Danach hat er es nicht in einen der Bücherschränke zurück gestellt. Aus Plastiktüten hat er einen Schutzumschlag gebastelt und das Buch zu seiner Habe gemacht.

Es begleitet ihn auf all seinen Gängen. Er liest so dies und das andere – aber immer wieder kehrt er zu den „Aras“ zurück und vertieft sich in die Lektüre. Manche Passagen sind ihm so vertraut, dass er sie wohl auswendig kann.

Und jetzt!

Jetzt hockt er lässig auf einem Baumstamm an der Isar und denkt über den ersten Satz nach.

Oder soll er doch lieber erst den Titel machen?

Er kann sich nicht entscheiden. Es ist wie damals, als er noch bildhauerte. Oft ist es so gewesen, dass der Holzblock vor ihm wuchtete und er keine Ahnung hatte, was er draus machen wollte. Seine Kollegen waren da anders: Sie hatten eine Vorstellung, ein Ziel einen Plan.

Er hatte nur das Gefühl, er müsse etwas machen.

Dann hat er tagelang mit dem Werkzeug in der Hand vor dem Holz gestanden und keinen Handstreich gewagt. Er hat die Musik laut gemacht oder sich der Stille ausgesetzt. Alois hat getrunken und er ist ratlos auf die Berge gestiegen. Hat von oben ins Tal gesehen und sich vor dem Heimkommen gegruselt. Dann wollte die Frau Antworten von ihm, und in der Werkstatt lachte ihn der Holzklotz aus.

Irgendwann – nie wusste er, wann das sein würde – war es soweit. Er hieb auf den Klotz ein. Er kämpfte eine Form aus dem Holz. Seine anfängliche Wut wurde weniger. Das grobe Werkzeug legte er aus der Hand und arbeitete ruhig und unablässig. Hohenleitner war jetzt allein mit sich und dem Werk, es wurde deutlicher und klarer, die Frau brachte etwas zum Essen und Bier, es roch in der Werkstatt nach Schweiß und Zigaretten und Alkohol und Holz, Alois hörte nur noch Musik von Johnny Cash.

Bis er fertig war. Dann brachte er das Werkzeug an seinen Platz. Er sammelte den Abfall in einer blauen Tüte, die er zum Müll trug. Fegte die Werkstatt, die Späne kamen in den Ofen. Alois öffnete alle Fenster – egal, ob es Winter war oder sommerheiß. Nach dem Lüften fotografierte er das Werk, schloss die Fenster, stellte den Besen ins Kammerl, verließ das Atelier, nahm ein Bad, setzte sich zum Saufen in die Küche. Die Frau brachte ihm Zeitungen, in der Hoffnung, das würde gegen den Absturz helfen.

Manchmal schaffte er es ins Schlafzimmer, manchmal ließ er einfach den Kopf auf den Tisch fallen. In den Wochen drauf war er zu nichts zu gebrauchen. Die Frau verkaufte das Werk meistens sehr schnell für sehr viel Geld, ihm war es egal. Er wurde krank vom Alkohol – erst wenn er nicht mehr konnte, hörte er mit dem Saufen auf.

Entzug. Gesundes Leben. Ein neuer großer Holzklotz in der Werkstatt. Und eines Tages stand Alois Hohenleitner wieder vor dem Trumm und wusste nicht, was er damit anfangen würde. Aber das Werkzeug hatte er schon in der Hand.

Dann fing alles von vorn an.

Er kennt es also, dieses Gefühl, dass er keine Ahnung hat, wie es weiter gehen wird.

Nun hockt er an der Isar und will ein Buch schreiben. Worüber? Warum?

Den Titel macht er später. Er fängt jetzt einmal an. Wie beim Bildhauen: ohne Rücksicht.