ICH?

ENDSPIEL 16

NAME: Alois Hohenleitner.

ALTER: im ersten Leben 53, im zweiten vier Jahre. Die Jahre aus dem zweiten Leben zählen doppelt. Mindestens.

GRÖSSE: Klein; früher habe ich die Spitzen der 2,13-Meter-Rennskier mit ausgestreckten Armen greifen können, fürs Fußballtor hat es nicht gelangt.

GESUNDHEIT: Säufer, der den Alkohol nicht mehr verträgt. Zwei Zähne fehlen, links oben und rechts unten, weiter hinten sind die Lücken, man sieht es nur beim Lachen. Dünn, mit einer Wampe vom Bier. Finger krümmen sich nach innen. Manchmal Blut an der Scheiße. Beim Pieseln tue ich mich hart. Ansonsten pumperlgesund.

SONSTIGES: Kein Vermögen. 23 Euro Bares. Keine Adresse. Single, geschieden.

Das bin ich.

Ich komme aus Oberammergau. Das ist ein Glück, wenn einer sagen kann, er komme aus Oberammergau. Er gehört zu den 5000 Glücklichen, die weltberühmt sind, angeblich.

Oberammergau liegt am nördlichen Rand der Alpen. Noch ein freundlicher Gebirgszug, und man hat das Gebirge hinter sich. Die Berge haben keine rechten Gipfel mehr sondern Kuppen, die heißen Vorderes, Mittleres und Hinteres Hörnle. Es gibt zum Osten hin den Laber, der ist ein wenig schroffer, mit Felsen und Alpen-Gefühl. Es gibt die Ammergauer und den Kofel, der wie ein plumper Phallus überm Dorf steht. Nach Westen weitet sich das Tal, hinter Unterammergau geht es gemächlich ins Allgäu.

Das schlechte Wetter kommt oft aus dem Westen.

Das schöne Wetter kommt von innen und oben.

Dann flirrt das Tal. Im Schnee, in der Sommerhitze, wenn das Laub bunt ist, wenn die Krokusse aus den Wiesen spitzen. Dann möchtest Du den Janker ausziehen und hemdsärmlig vor einem Heuschober am Aufacker sitzen. Die Sonne hat die alten grauen Latten der Hütte aufgewärmt, sie greift Dir ins Gesicht, dass es bizzelt und Du die Augen geschlossen hast. Das Tal summt, Du bist der Mittelpunkt der Erde, sterblich bist auch nicht. Fehlt nur noch ein Frau.

So kann Oberammergau sein.

Außerdem bist Du ein Teil der Passion.

Ich, Alois Hohenleitner, war wichtig, als ich jung war. Mit vier stand ich zum ersten Mal auf der Bühne, mit 24 war ich der Johannes.

Johannes ist fast noch mehr als Jesus. Seine Mutter und Maria sind verwandt gewesen. Jesus hat seinen Schwippschwager sehr geliebt.

Beim letzten Abendmahl lehnte er an der Brust des Herrn, er war bei Jesu Verklärung am Berg Tabor dabei, begleitete Jesus auf den Ölberg und ging mit ihm bis zum Kreuz, wo ihm Jesus seine Mutter als Mutter für uns alle schenkte:

„Als Jesus seine Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er liebte, sagte er zu seiner Mutter: Frau siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“

So steht es in der Schrift. So hatten wir Oberammergauer Buben es gewusst, immer. Wer etwas werden wollte bei der Passion, hat auf die Rolle des Jesus gespitzt. Den Petrus hat ein Alter gespielt, den Judas ein Depp, die Maria war eine Frau. Aber der Johannes! Der war schön, hatte wallendes Haar, war das Liebkind vom Gekreuzigten.

Und wenn die Vorstellung aus war, das war so gegen fünf -, hat der Johannes das lange Gewand gegen die Jeans und das T-Shirt vertauscht und ist mit wallendem Haar den jungen Zuschauerinnen nachgestiegen. Die haben gar nicht Nein sagen können.

So ist es jedenfalls bei mir gewesen. Sie haben mich zum Jünger Jesu gemacht, und ich hatte einen Aufriss nach dem anderen. Eine schöne Zeit war das.

Nicht dass ich die Passion fürs Anbandeln gebraucht hätte. Ich habe saugut ausgesehen, war ein sportlicher Typ und habe von Anfang an gespürt, dass man die Weiberleute am besten mit Lachen herum kriegt.

Also: Die Passion, als ich 24 war, hat mir getaugt. Die Madl kamen aus allen Kontinenten. Sie haben sich gehen lassen, weil jede wusste, dass das ein, zwei Tage dauern würde. Dann waren sie weg, zurück in ihrem Kontinent, und hatten die schöne Erinnerung, dass sie das Lager einmal mit einem Apostel geteilt hatten.

Also: Das Vögeln war ohne Probleme, es gab keine Hemmungen, man hat nicht lange drum herum geredet, ein Danach gab es nicht.

Super war das.

Aber ich komme ab.

Alois muss trinken. Ich komme ab – was soll das heißen? Er weiß ja gar nicht, wohin er will.

Zweiter Versuch.

NAME: Alois Hohenleitner

ALTER: 24

BERUF: Schauspieler (letztes Engagement: der Apostel Johannes bei der Oberammergauer „Passion“) und Holzschnitzer. Die Karriere als Skirennläufer musste Hohenleitner nach einem Sturz vor drei Jahren beenden.

SONSTIGES: Hohenleitner war kurz mit der Maria“ der Passionsspiele verlobt. Die „Bild“ hat exklusiv über die Trennung (Johannes und Maria: das Liebes-Aus!“) berichtet.

Skifahren: Das war die größte Leidenschaft – da konnte keine Passion mithalten. Die Mutter hat mich angejunkt, sie hat mich auf die Skier gestellt, als ich gerade mal zwei war. Der Opa hat übernommen. Er war ein furchtloser Mann. Und er hat Angst bei mir nicht akzeptiert. Einmal, da war ich fünf, habe ich mir im faulen Schnee sehr weh getan. Rechter Arm. Der Opa hat mir den Stock aus der Hand genommen, und wir sind den Rest des Nachmittags einarmig gefahren. Danach hat mich die Mutter zum Doktor Kreuzer gebracht. Der war genauso alt wie der Opa und genauso zäh. Er hat nach dem Röntgen gesagt, dass der Arm gebrochen sei und gegipst werden müsse. Am nächsten Tag waren wir wieder beim Skifahren.

Das erste Rennen habe ich mit sechs gefahren. Von da an war ich im Winter fast an jedem Wochenende am Start. Meistens fuhr ich von einer „Wanne“ zur nächsten; ich hatte hohe Startnummern, und die Kinder vor mir hatten die Spur in einer Bobbahn verwandelt.

Es störte nicht. Ich kam unten an, und mit der Zeit wurden die Startnummern niedriger.

Weil ich furchtlos war wie der Opa, bin ich auch schnell gewesen.

Als Halbwüchsiger begann ich Rennen zu gewinnen. Mit 16 durfte ich zum ersten Mal bei den erwachsenen Männern mitmachen.

Ich war stark, verwegen. Wurde ein Abfahrer.

Das ist eine eigene Welt gewesen. Man nannte uns die Wilden, die Hirnverbrannten, die Crazymen. Wir hatten Skier, die so lang waren wie Hausbohlen, und Helme, mit denen wir aussahen wie Formel-Eins-Helden. Wir bremsten nicht. Wenn einer stürzte, lachte man, er rappelte sich auf und probierte es noch einmal. Bei den Rennen stürzte immer wieder einer schlimm. Einer gewann, und die Anderen waren irgendwie erleichtert und stolz. Abends nach den Rennen soffen wir wie die Eishockeyspieler.

Das hätte immer so weiter gehen dürfen.

Aber dann war ich mit einer Freundin unterwegs. Ich zeigte die Piste hinunter und sagte, da sei noch nir einer Schuss gefahren. Die Freundin nickte, das könne sie verstehen, nur ein Selbstmörder würde das versuchen.

Es war ein sehr steiler Hang, sehr bucklig die Piste, am Ende verschwand die Schneise im rechten Winkel im Wald.

“Dann bin ich der Erste.”

Abgestoßen. Fahrt aufgenommen. Schon bald im Kampf ums Stehenbleiben. Ganz links in der Anfahrt auf die Kurve. Ich war zu schnell, konnte die Unebenheiten nicht mehr abfedern, ich würde die Kurve nicht kriegen, es trug mich nach rechts, noch versuchte ich auf den Skiern zu stehen.

Dann hob ich ab. Flug in den Wald. Hände und Arme vor dem Kopf. Flug ohne Kontrolle. Mit einer Schulter gegen einen Baum, mit der anderen Schulter gegen einen anderen Baum. Mit dem Oberschenkel frontal gegen eine Fichte.

Dann lag ich da.

Die Freundin musste ins Tal, die Männer von der Bergwacht kamen eine Ewigkeit später, da war ich wohl mehrmals ohnmächtig gewesen. Im Krankenhaus behandelten sie ein gebrochenes Bein, eine kaputte Schulter, zertrümmerte Knie und Kleinigkeiten.

Das war’s dann mit Leistungssport. So blieben das Holzschnitzen und das Passions-Spielen, das Saufen und das Vögeln.

Auch nicht übel.