NEUE UFER

ENDZEIT 14 Er schafft es nicht bis zur „Tafel“. Als Alois pfeifend unterm Chinesischen Turm steht, wird er von einem mörderischen Durst heimgesucht. Er würde sich jetzt gerne eine Maß im Baumschatten leisten, aber der Biergarten ist mit rotweißem Bandl abgesperrt wie ein Tatort. Alois kümmert sich einen Scheiß ums Verbot, steigt über die Liane und setzt sich auf eine  Bank. Er muss nachdenken.

Bis zur Reichenbachbrücke, das zieht sich bei der Hitze, da braucht er eine knappe Stunde. Dort könnte er sich, wenn er sich hinten anstellt in der langen Reihe Durstiger, am Kiosk etwas zum Trinken kaufen, danach ist es nicht mehr weit zur „Tafel“. Freilich, er würde bei der „Tafel“ schon wieder in der Schlange stehen und schon wieder Durst haben. Er müsste sich zusammenreißen – und das wegen ein paar Bananen, einem Kopfsalat und Reis und Nudeln und vielleicht einem Mineralwasser. 

Er könnte aber auch umdisponieren.

Er überlegt, wo die nächsten Tankstellen sind. In Schwabing. Am Ring. In Steinhausen. An einer U-Bahn irgendwo. Oder vielleicht?

Ja, er wird nach Bogenhausen tippeln. Der Rewe am Kufsteiner Platz ist ohnehin eine seiner Lieblingsadressen. Und der müsste offen sein. Ist ja ein Supermarkt.

Super.

Langsam – nur das Herz nicht überfordern – wandert Alois, mit wachsender Vorfreude, ostwärts. Er verlässt den Englischen Garten, passiert die „Taverna del Sud“ (dort hat er in seiner besseren Zeiten die Damen gern parat gemacht, das ging gut bei Rosé und Tintenfisch). Über die Max-Joseph-Brücke bis zur Ampel am „Catwalk“ (da hat er die Damen vor dem Flachlegen noch auf ein Glaserl Wein eingeladen). Die Mauerkirchner Straße lang bis zu seiner Hausbank (ja, damals hatte er eine Hausbank mit einem netten Angestellten, der ihn persönlich betreut hat), nach links am Blumenladen vorbei (da hat er was Nettes gekauft, wenn es mit der Dame nach dem ersten Mal eine Wiederholung geben sollte und er sie sich gefügig machen wollte, er ist ein spendabler Blumen-Galan gewesen).

Alois betritt den Rewe. Obwohl im vergangenen Jahr renoviert worden ist, riecht es im Geschäft wieder wie zu der Zeit, als der Alois in der Pienzenauer ein Penthouse hatte und beim Rewe seine Einkäufe erledigte. Er lässt die Gemüse- und die Frischmilch-Käse-Sahne-Abteilung schnell hinter sich, zieht rasch an den Waschmitteln und am Tierfutter vorbei.

Jetzt gilt es.

Bier oder Wein?

Schwere Entscheidung. Alois entschließt sich nach demokratischem Abwägen für Augustiner und Roten aus Südtirol. Er prüft seine Barschaften, dann lädt er den Wagen voll.

Sechs Bier, dazu zwei eiskalte „Elephants“ aus dem Kühlregal. Zwei Liter Edelvernatsch. Dazu drei Semmeln, eine Packung Mailänder Salami, einen Stift und ein Schulheft, kariert. Alois lächelt froh, er hat eine Idee.

Deswegen das Heft und der Kuli. Wegen der Idee.

Ein guter Tag ist das. Als Alois den Laden verlässt, ist er noch nicht völlig abgebrannt. Zur Not könnte er noch Nachschub kaufen. Prima. 

Alois – an dieser Stelle zollen wir ihm einmal den gebührenden Respekt und bringen seinen Nachnamen ein, er nennt sich Hohenleitner – schnauft zufrieden, weil die Tasche schwer ist und klimpert. Er marschiert an der Isar entlang stadtauswärts, unterquert nach einer „Elephants“-Pause in dem kleinen Park den Mittleren Ring. Nach einem halben Kilometer verlässt er den Radweg und klettert einen schmalen Steig hinunter zum Ufer.

Hier ist ein Stammplatz von Alois Hohenleitner. Ein angeschwemmter Stamm einer alten Linde. Knochenbleich, ohne Rinde, glattgeschliffen vom Isarsand. Der Stamm hat sich fest ins Ufer vergraben, die ideale Sitzhöhe hat er.

Alois lehnt die Tragetasche an das Holz, trinkt ein schnelles „Elephants“ gegen den Durst, öffnet eine Flasche Südtiroler. Hätte er ein Glas, würde er es füllen und gegen die Sonne halten. Der Edelvernatsch würde in warmem Rostrot schimmern, und der Trinker könnte zufrieden nicken.

Nun gut, er hat kein Glas, also stellt sich Alois das Ritual vor. Er setzt an und trinkt aus der Flasche.

Gut. Nicht zu kühl, nicht zu lau. Volles Bouquet. Sonniger Alkohol. Bozen. Kaltern. Trient. Vinschgau. Urlaub. Losgelöst-Sein. Schinkenplatte. Kastelruther Spatzen. Frauen mit vollen Brüsten und Händen, die Speckknödel rollen.

À propos Speck. Alois reißt die Salami-Packung auf, belegt eine Semmel reichlich, isst.

Die Isar führt noch Schmelzwasser, es ist milchgrün und wellt sich aus der Stadt. Es rauscht und gurgelt. Die Sonne kommt schräg aus Süden, steht hoch zwischen dem Hilton und dem Kufsteiner Platz. Keine Wolken, keine Kondensstreifen (es gibt ja kaum noch Flieger), der Himmel ist metallicblau poliert. Ein bisschen ordinär schmeckt die Salami schon, dafür hält sich die Semmel dezent zurück. Alois hat Hunger und Appetit, ihm ist warm, im Gesicht fühlt er den kommenden Sommer.

Aaah!

Er wird sich nicht schnell besaufen. Zelebrieren wird er den Tag. Es gibt zu feiern, und das möchte er genießen. Die Flasche ist seine Freundin, freundlich besieht er das Etikett. Dann ritzt Alois mit dem Daumennagel – er sollte mal wieder zur Maniküre – im Handkanten-Abstand Striche ins Etikett. Er wird in gesundem Takt trinken – pro Schluck einen Strich. Dann kommt er mit den zwei Flaschen gut und heiter durch den Nachmittag. Das Augustiner ist für den Rückweg zu Sabine und Ernst.

(Und falls es doch aus dem Ruder laufen sollte, kann er immer noch zum Rewe)

Jetzt wird es Zeit für die Idee.

Der Mann auf dem Stamm sucht sich eine bequeme Stellung – es gibt einen armdicken Ast, der schräg aus dem Stamm stakt und an den man sich lehnen kann. Alois wickelt ein Handtuch – er sollte mal wieder seine Sachen waschen – um den Ast und ruckelt sich zurecht. Zur Rechten hat er den Wein sicher abgestellt, auf dem Schoß liegen Block und Stift.

„So!“ sagt Alois Hohenleitner. „Jetzt geht es los.“

Jetzt – wo alle die Krise haben – wird er sich einen Traum erfüllen. Er wird ein Buch schreiben.

Salute!

Auch ein Graf hat mal klein angefangen.

Prost!