TIEF INNE SEELE

berlin, 4. januar 2017, winter ’16/’17, Folge VI     —–     Karin kommt am 2. März 1944 im Sudetengau zur Welt. Draußen schneit es, die zwei Jahre ältere Schwester wird von der Nachbarin genommen.

Die Mutter beeilt sich mit der Niederkunft. Nur nicht viel Zeit verlieren. Man hat zu tun. Man muss schnell wieder auf den Beinen sein. Es ist nicht leicht in diesen Tagen, das bisschen Brot und die Kartoffeln zu besorgen. Feuerholz muss organisiert werden. Im Haus wohnen welche, denen man nicht trauen kann, man muss aufpassen, dass einem das Wenige, was man mitgebracht hat, nicht unterm Arsch weg geklaut wird.

Also: An Kleinigkeiten wie eine Geburt verschwendet man in diesen Tagen keine Sentimentalitäten.

 

Geboren in der falschen Zeit.

 

Die Mutter ist ja erst einmal froh, dass sie im Sudetengau untergekommen ist. Der Mann hat sie in einen Zug gesteckt und gemeint, sie solle nicht viel fragen. Es müsse sein.

Der Mann, ein hohes Tier im Reichsluftfahrtministerium, hat gesagt, Berlin sei nicht mehr sicher, das werde jetzt immer schlimmer. „Ihr müsst weg – bevor das Kind kommt.“

Er hat ja Recht gehabt. Bisher haben nur die Engländer tagsüber angegriffen und die Bomben über Berlin abgeworfen. Knapp 180 Angriffe hat Karins Mutter mitmachen müssen in der Leipziger Straße. Nun hört sie aus dem Volksempfänger, dass auch die Amis über die Stadt herfallen. Tag und Nacht.

 

Wollt Ihr das totale Ende?

 

Ist schon alles in Ordnung so, wie es ist.

 

 

Erst nach dem Krieg kehrt die Mutter in die Heimat zurück. Mit dem Bollerwagen werden sie und die kleinen Mädchen zum Bahnhof von Liberec gekarrt. In voll gepferchten Waggons schlagen sie sich durch in den Norden. Schweigend blickt die Mutter zum Fenster hinaus, als der Zug zwischen den Ruinen eines Bahnhofs zum Stehen kommt.

Die Familie zieht beim Opa in Britz ein. Da ist die Verwüstung nicht groß. Die Gärtnereien stehen noch. Gut so – da kann sich der Vater nach einem neuen Beruf umsehen.

 

Wir ham nix, wir geben nix.

 

Vor dem Krieg hat er Autos verkauft. Bei Opel hatten sie in Berlin keinen Besseren. Aber jetzt brauchen die Menschen erstmal keine Autos.

Also schult Karins Vater auf Blumengroßhändler um. Er ist ein hagerer schweigender Mensch, der gute Geschäfte macht und nicht lacht. Geizig sind seine Frau und er. Und streng. Sie haben es nicht anders gelernt.

Die Mutter ist Jahrgang ‘03, der Vater wurde 1904 geboren. Ein verstocktes freudloses Überlebens-Team.

„Die waren 40, als ich kam. Da waren sie uralt“, sagt Karin. „Das waren keine Eltern zum Liebhaben.“

„Wenn mein Vater jesacht hat, dit wird jemacht, denn wurde dit jemacht. Und wenn et nich jemacht wurde, hat er nochmal jesacht, dit wird jemacht. Und wenn et dann nich funktioniert hat, dann hat et jerappelt.

Auch die Mutter hat nich lang jefackelt. Wenn der was nich passte, isse mir mitn Ausklopper nach, immer um den Küchentisch rum.“

 

 

Einmal malt sie sich als Teenager die Lippen rot an und geht  auf die Straße. Bei der Rückkehr großes Theater.

„Enge Hosn, lange Haare, anjemalte Lippen – durft ick nich. Det weeß ick heute noch, wie wenn et jrad passiert wär. Alle durften se inne Schule lange Haare ham. Alle durften se enge Hosen ham. Alle hatten‘se Ballerinas, so weiße niedliche Schühchen. Ick hab keene engen Hosen jekriecht, ick musste mir die Haare schneiden lassen, ick hab Klumpen an den Füßen jehabt.

Denn  musst’ ick zun Friseur, mir die Haare abschneiden lassen. Da hab ick mir sone Innenrolle machen lassen. Nach ‘n paar Tagen ham sich die Haare raus gewachsen. Und Mutter hat jetobt. ,Du hast Dir die Haare wieder nich richtich schneidn lassen.‘ Dann setzte es was. Beim nächsten Mal hat ‘se bein Friseur anjerufen, und der hat mir dann ‘ne Dauerwelle verpasst. Ick hab ausjeseh’n wie ‘n Pudel.

Dit hat sich bei mir inne Seele einjebrannt, bis heute.“

 

 

 

Schaufensterdekorateurin will sie werden. Das würde ihr gefallen. Sie wäre gern eine der jungen Frauen, die da in den großen Kaufhäusern die weite Welt in die Auslagen zaubern. Aber nein, das wollen die Eltern nicht. Karin soll im Betrieb einscheren. Also schickt man sie erstmal auf die Handelsschule  am Viktoria-Luise-Platz. Steno, Buchführung, solche Dinge.

„,Frollein Karin, kommense mal zum Diktat!‘ Wie ick dit jehasst hab‘. Hatte ick doch jar keene Lust für.“

Eine dunkelblonde junge Frau mit schönen Beinen. Waden, die sich rund hinunter ziehen bis an die Fesseln. Stracke Oberschenkel. Guter Busen. Es gibt Fotos von ihr, da flirtet sie mit der Kamera. Hat einen knappen Einteiler an und sieht nach Sünde aus.

Aber sie hat gar keine Gelegenheit zur Sünde.

 

“Mein Vater war uralt.” DIE MARKEN SIND AUS DER SAMMLUNG VON BARBARA VOLKMER, ALLES AM LYZEUM MÜHSAM ERTAUSCHT

 

Einmal geht sie mit einem, den darf sie aber nicht nach Hause bringen. Also treffen sie sich zum Knutschen in den Britzer Feldern oder zum Fernsehen bei seinen Eltern in der Fritz-Erler-Allee.

Er ist kein begnadeter Liebhaber, zappelt so rum an ihr, aber er weiß nicht, was er mit ihr anfangen soll. Ins Kino lädt er sie auch nicht ein. Und beim Fernsehen kann man nix Rechtes anfangen, weil man ja nicht allein ist.

Der Freund ist arm und sieht nicht besonders aus. Karin hat kein Taschengeld. Da ist nicht viel mit Vergnügen.

Wenigstens Fernsehen. Das haben sich der Vater und die Mutter in ihrem Geiz nicht anschaffen wollen. Und so ist Karin schon froh, wenn sie dem Totenhaus in der Mohriner Allee entfliehen kann.

„Wir ham keen Fernseher jehabt. Wir ham keene Waschmaschine jehabt, die Mutta hat noch mit die Hände jewaschn, nur die Bettwäsche hat man nach außen jejeben. Radio hat der Vatta für sich alleene jehabt. Da hamwa – meine Schwester, die war zwee Jahre älter, und icke – durch die Wand Radio hörn können, dit war det Höchste der Jefühle.“

Dann wechselt Karin den Freund. Den Neuen lernt sie in der Gärtnerei kennen.

Der hat ein bisschen Pinkepinke, es reicht auch ab und zu fürs Kino, wo es warm und trocken ist. Und in der letzten Reihe sitzen die, die nicht gesehen werden wollen.

Der Neue schenkt ihr ein kleines Kofferradio. Dafür ist sie auch ganz lieb mit ihm. Er fährt einen Käfer, da isses eng, man muss sich verrenken, aber man ist ja jung. Und Liebe-Machen riecht nach VW.

Das brennt sich in die Seele ein.

Radio hört sie abends unter der Bettdecke. Elvis. Beatles. Böse Sachen. Ganz leise dreht sie den Ton, dass es die Eltern nicht mitkriegen.

Sie beginnt sich – nun ist sie 23, 24 – ganz wohl zu fühlen. Das Leben ist noch vor ihr. Und schöne Brüste hat sie ja.

Da muss doch noch was kommen.

Nächste Folge: Falscher Mann