FALSCHER MANN

berlin, 7. januar 2017     —- winter 16/17, Folge VI.

 

„Am 13. August ‘61, da warma jerade anner Nordsee. Sankt Peter Ording, wie immer. Vater hatte Jeburtstach. Da hamse die Mauer dicht jemacht.“

Am 14. liest es Karins Vater in der Zeitung. Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst vermeldet: „Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR, an alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins, einschließlich seiner Grenze mit dem demokratischen Berlin, eine verläßliche Bewachung und eine wirksame Kontrolle gewährleistet wird.“

„Da hat mein Vater jedacht, die lassn uns nich mehr rin. Sie ham janz scheen die Muffen jehabt, der Vater und die Mutter.“

Also geht’s ganz schnell zurück in die Heimat. Die Schwestern sitzen im Fonds des Lieferwagens auf einer Luftmatratze. Vorne die Mama und der Papa, sehr angespannt. „Hoffentlich machen die nicht total zu.“

Sie kommen nach Berlin. Sind echt froh, als sie die muffigen Grenzer in Staaken hinter sich haben. Über die Heerstraße runter in die Stadt, dann rechts ab durch Kreuzberg und Neukölln.

Endlich in Britz.

Karin und ihre Schwester tragen ihre abgewetzten Pappkoffer in ihr gemeinsames Zimmer im ersten Stock (naja, bald hat Karin die Bude wohl für sich, die Schwester pussiert ernsthaft mit einem Kerl, den sie wohl heiraten wird, dann ist die endlich aus dem Haus). Karin sortiert die schmutzige Wäsche aus, den Rest verstaut sie in ihrem Schrank.

Im Nebenzimmer zanken die Eltern. Sie machen sich Sorgen wegen des Geschäfts. Was wird jetzt?

Die jüngere Tochter macht sich keine großen Gedanken. Sie ärgert sich, dass sie nach der Schule im väterlichen Geschäft einscheren muss – aber man lässt ihr keine Wahl.

 

So isses nun mal: Der Zuch is abjefahrn.

 

Die Mauer? Die DDR? Die Beatles? Mit Freundinnen über den Ku’damm bummeln?

Das passt nicht in ihr Leben.

„Fräulein Karin zum Diktat!“ Abrechnungen. Mahnungen. Vorgänge abheften. Der Mutter im Haushalt helfen. Heimliches Geknutsche mit dem Freund. Ab und zu am Sonntag nach Kaffee und Kuchen ein Spaziergang durch Britz. Urlaub in Sankt Peter Ording.

„Dit hier war tot. Nix is hier jewesn. Keen Cafe, keen Restaurant. Der Vater hat den Tagesspiegel und später die Morgenpost jelesen. Meine Mutter hat nicht mal ‘nen Fernseher erlebt.“

So und nicht anders ist es.

Und, husch, sind zehn Jahre ins Land gegangen. Wenn der  Wind aus Osten oder Süden kommt,  riecht Britz nach Niederschöneweide oder Großziethen, nach Zweitaktern und Braunkohle. Ansonsten hat Karin mit der Deutschen Demokratischen Republik nichts zu schaffen. Das ist ein Land aus einer anderen Welt, noch weiter weg als Bayern oder Italien.

Auf Arbeit lernt sie Harry kennen. Eine Schönheit ist er nicht. Klapperdürr, mit einem verhuschten Wesen. Er scheint schüchtern, sie wird anfangs nicht recht schlau aus dem jungen Mann.

Ihr gefällt, dass er kein Angeber ist. Wenn er den Mund aufmacht, sagt er kluge Sachen. Er prahlt nicht mit Saufereien und Männer-Abenteuern.

„Er war sehr jepflecht und sehr jebildet. Sehr, sehr jebildet. Wat war der intellijent. Der konnte rechnen, der hatte zich Berufe, der is uff de Abendschule jejangen, aus janz janz armen Verhältnissen (fünf Kinda warn dit, und die Familie is am letzn Tach ausjebombt worn, am letztn Tach!) is der jekommen und hat sich allet anjelernt.“

Wenn er Pause macht, verdrückt er sich mit seinen Stullen und einer Zeitung in eine Ecke. Harry ist nicht unfreundlich, er hält den Frauen sogar die Türe auf. Ein stiller Typ eben. Einer, der einen Schubser braucht.

Beim Betriebsausflug richtet Karin es so ein, dass man am selben Tisch sitzt. Sie unterhält sich wundervoll mit Harry – der Mensch weiß Sachen, das glaubt man nicht!

Sie fordert ihn zum Schwoof auf. Besonders geschickt stellt er sich nicht an. Aber er riecht gut und bringt sie bis zur Gartentür nach Hause.

„Woll’n wir mal ausjehn? Am Wochenende, inne Stadt?“, fragt sie und freut sich, dass er rot wird.

Ja, gern.

Man trifft sich und entwickelt sich. Harry küsst leidlich, er berührt sie mit Interesse, aber nicht sehr gekonnt.

Doch er ist so aufmerksam, wie das noch kein Mensch gewesen ist. Harry hört zu, wenn sie etwas erzählt. Er merkt sich ihre Geschichten. Er nimmt sie ernst.

Mal schaffen sie es sogar bis in die Stadt. Am Nollendorf landen sie in der „Hajo Bar“. Karin fühlt sich leicht und begehrt. Sie trägt ein luftiges weißes Sommerkleid mit roten Tupfen, und ein sachter Wind fährt ihr an den Schenkeln hoch. Ein Schwuler macht ihr ein Kompliment, das tut gut, es tut so gut.

Im Sommer gehen Harry und sie ins Freibad. Schwimmen, das kann er. Er macht vom Dreimeter-Brett einen Köpfer und bewundert ihren neuen Badeanzug. Er bewundert sie so sehr, dass er sich auf den Bauch legen muss. Da muss sie kichern, das gefällt ihr.

Ein paar Wochen später fragt Harry, ob sie ihn heiraten würde.

Karin überlegt nicht lange. Wird Zeit, dass sie unter die Haube kommt. Vielleicht wird es doch noch was mit Mutterschaft, eigenem Haus, kleiner Familie. Harry wird sie weg bringen von Mutter und Vater.

Sie haben eine kleine Hochzeit. Karin sieht verführerisch aus, sie hat sich zur Feier des Tages Strapse angeschafft, ihr Lachen auf den Fotos (Farbe, was das kostet!) hat etwas Frivoles. Harrys Eltern freuen sich ganz doll, Karins Familie sitzt beim Essen wie bei einem Leichenmahl.

Typisch.

Eine kleine Wohnung in Britz mieten sie, sie vertragen sich gut. Harry liest viel, hilft im Haushalt. Er geht nicht oft aus und kommt nie betrunken nach Hause. Manchmal ist ihm tagelang nicht gut, dann kriegt er kaum einen Happen runter, kann manchmal nicht zur Arbeit. Er wird noch ein wenig dünner und bekommt tiefe Falten von der Nase bis zu den Mundwinkeln.

Die Schmerzen werden schlimmer, Harry geht zum Arzt.

„Was hat er gesacht.“

„Ach nichts. Das wird schon wieder. Ich soll nichts Scharfes essen.“

Es wird nicht wieder. Harry ist auf den Tod krank. Und das Sterben wird 30 Jahre dauern.

Doch noch einmal bäumt sich der Mann auf.

 

Jeder Mann hat seinen Preis.

„Wat frachste? Ob dit Pech war mit dem Harry?

Kann ick nich sagn. Warn 35 Jahre zusammen. Kinder wollt ick am Anfang – aba denn isser ja krank jeworn. Sonst war er ja ‘n Braver, nur ewig krank, bis er jestorben is. Ja, und dann war da die Jeschichte mit der Spielhalle.“

Wie war das? Spielhalle?

„Er war der Meinung, er müsste ne Spielhalle koofn. Am Arsch der Welt.

In Kreuzberg inner Wrangelstraße.

Die Karin macht die Aufsicht. Türken und so, die tanzen mir uffer Nase rum.

Nee, Geld is nicht rumjekommen. Draufjezahlt ham wir. Mein Vater ist bald wahnsinnig geworden.

Da gab‘s: die Geld-Automaten. Die Flipper. Und Billiard – da wurden die Kugeln geklaut, oder sie haben die Musikbox ausgeräumt.

Der Harry jibt also die Stelle uff, ne jute Stelle – und meint er müsste ne Spielhalle koofn. Eine runter jekommene Spielhalle. Vergammelt. Arm. Total arm. Anner Ecke ne Kneipe, ooch mit Billiard und den Daddel-Dingern drin. Und da will der gegen anstinken.

Ick sach: Koof die Halle nich. Er hat wenich Jeld jehabt, ick hab jar keens jehabt.

Koof dit nich!“

30000 D-Mark kostet die Absteige in Kreuzberg. Harry kauft.

„Herr Kohl macht mit einer Unterschrift 30000 Mark Schulden. Bald irre jeworden bin ick.“

 

 

Immer schön eisern bleiben, Justav!

„Jetzt ham wir fünf Stellen jehabt, wo wir Monatsende bezahlen mussten. Pacht. Rate. Strom. Benzin. Und du musst Dir selber noch wat zu essn koofn. Achja, Krankenkasse nebenbei.

Und dann sin da immer die Leute jewesen, die wat von uns wollten:

,Sagn Se dem Chef, wenn der nich zahlt, denn hol‘ ick de Apparate hier raus.’ Denn kam eener vom Strom: ,Sagn Se dem Chef, wenn der jetzt nich zahlt, denn stelln wir den Strom ab.’ Denn dit Finanzamt. Am Monatsende hat der Rentner, der bei uns als Aushilfe anjestellt war, ooch die Hand uffjehalten. Un der Fleischer und der Bäcker un die vonner Apotheke…

Ick bin bald irre jeworn. Da war wat los, det war ne Zeit.

Un der Harry is immer kränker jeworn. Magen und Magn und Darm und Darmverschluss, der war ja so oft uff Intensiv, wir ham schon nich mehr jezählt. Der war sehr krank.

Den halben Magen ham se ihm raus jemacht. Von oben bis unten uffjeschnitten. Ein Jahr war der Harry im Stahlkorsett. Dit war nich drollig. Der konnte sich nich mal knickn. Und jut jerochn hat er natürlich ooch nich mehr.

Ick kenn den eijentlich nur krank. Aba lachn konnte er komischerweise.

Eins is nachm anderen jekommen.

Hepatitis der schlimmen Sorte.

Krebs.“

Die Ärzte nehmen sie zur Seite und erklären, Harry sei sehr schlimm dran. Er habe „Viren der schlimmen Sorte“.

„Mensch, wenn der so hohe Viren hat, hab‘ ick jedacht, denn wird der mir eventuell wegsterben. Mensch, wenn der so hohe Viren hat – dann biste plötzlich janz alleene. Mir war der Harry lebendig lieber als tot. Auch wenn mich der Alltach total kaputt jemacht hat.“

Sie bettet ihren Mann um. Sie greift seinen Leib und rollt ihn zu sich heran. Nestelt ein neues Laken unter ihn.

Sie säubert ihn mit einem Waschlappen.

Achselhöhlen.

Mundwinkel.

An der Scham.

Poritze.

Füße.

Und so weiter.

Zweimal in der Woche braust sie ihren Mann ab.

Fährt ihn im Rollstuhl am Sonntag spazieren.

Sie arbeitet wieder in der Firma des Vaters, Harry und Karin leben wieder bei ihren Eltern. Der Vater redet nicht mehr viel, er liest Zeitung oder hört Radio. Die Mutter streitet nur noch. Im Haus wird nicht oft gelacht.

Sie fährt Harry zum Arzt, besucht Harry in der Klinik.

Poritze.

Achseln.

Naseputzen.

Windeln.

„So war dit. Ick hab et jar nich jemerkt – aber uff eenmal war ick alt.”

Nächste Folge: Knut und Herr Dörflein