TEUFELSKREIS

sommer zwanzichfuffzehn XXII

Das Deutschland-Abenteuer des jungen polnischen Paars war peinvoll. Die Arbeit war futsch. Hartz IV reichte nicht vorn und nicht hinten – sie ging für Hungerlöhne putzen, führte Hunde aus, passte auf Kinder auf. Ihr Mann begann mit seinem „Jan-macht-alles“-Programm ganz von vorn. Und wenn er keinen regulären ordentlichen Schwarzarbeits-Job hatte, stellte er sich eben im Treptower Park an die Straße und wartete auf die Bulgaren-Busse.

Im Fernsehen lief ein Abspann. Es war halb eins. Aus Irminas Sorge war Angst geworden.

Vor einem knappen Jahr waren sie in Schlesien gewesen. Damals hatten sie den Firmenwagen noch – niemand wusste, dass sie die Karre einfach nicht von der Hacke bekamen. Das Auto war gewaschen und poliert, das Firmenlogo (eine Firma gab es zu dieser Zeit schon nicht mehr, aber davon hatten sie niemandem erzählt) strahlte. Seine Eltern, ihre Eltern waren so stolz gewesen. Immer wieder musste Jan berichten, was im Westen alles zu reparieren war. Und dass die da in Berlin auch nur mit Wasser kochten.

„Ein rechter Winkel bleibt ein rechter Winkel“, sagte Jans Vater und fand das sehr wichtig. „Und guter Zement ist guter Zement – im Westen genauso wie bei uns.“

Irminas Vater horchte dem Gesagten nach, nickte dann ernsthaft: „Nur, dass wir nicht so oft guten Zement bekommen. Aber das mit den rechten Winkeln haben wir genauso gut drauf wie die in Berlin. Oder, Jan?“

Gequält nickte dann der Schwiegersohn.

Damals war Irmina klar geworden, dass es für sie kein Retour gab. Sie hatten die Wurzeln gekappt. Nie würde Jan als Gescheiterter nach Gleiwitz zurück gehen. Er war ein stolzer Mann.

Das erste Mal auch hatte sie es als störend empfunden, dass ihr Mann seine Sorgen mit sich selbst aus machte. Manchmal öffnete er sich, wenn er mit den Kindern spielte. Dann fühlte er sich nicht beobachtet, lachte befreit und laut, war albern. Wenn sie aber ins Zimmer kam, nahm er sich wieder an die Kandare.

Er war hart mit sich. Und in Berlin wurde der Panzer, den er um sich hatte, immer dicker. „Ich komme nicht mehr an meinen Mann heran“, dachte sie und wusste sich keinen Rat.

Was sollten sie denn machen? Irmina gingen alle Planspiele der letzten Wochen durch den Kopf. Keines würde aus der Heillosigkeit führen. Wie sollte Jan all diese tollen Jobs machen, die es wohl gab – wenn er keine Karre hatte? Wie sollte sie als Friseuse die Kundinnen zuhause besuchen – wenn Jan auf Job und die Kinder allein waren? Wie sollten sie Geld für ein Auto oder für ein neues Scheren-Set oder für wasauchimmer zurücklegen – wenn der Typ von der Versicherung alle drei Tage neue Mahnungen schickte? Und wie sollten sie überhaupt arbeiten und Hartz IV zu gleicher Zeit beziehen? War ja wohl nicht erlaubt, oder wie?

Kannte sie sich mit Paragraphen aus?

Kannte Jan sich mit Hartz IV aus?

Wussten sie überhaupt etwas über dieses fremde Land?

Aber das war egal. Ihnen flatterten die  Bescheide und die Formulare ins Haus. Sie wurden beschieden und mussten sich erklären. Sie hatten sich in das System gewagt, jetzt mussten sie mit dem System klar kommen.

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Don’t write us. We write you.

Jan war ein kluger Mann. Und er wusste Sachen. Wenn er „Wer wird Millionär?“ guckte, kam er bis zur 64000-Euro-Frage. Oft noch weiter.

Er hatte sich all das selbst beigebracht. Wenn Jan einmal etwas gelesen hatte, dann war es auch gespeichert. Das Land mit der zweitgrößten Fläche auf der Erde? Klar Kanada. Was ist die „Schöne Else“? Der Baum des Jahres 2010. Wem schießt Wilhelm Tell den Apfel vom Kopf? Dem Walter. Wer schrieb als eines von zwei Theaterstücken „Wie man Wünsche beim Schwanz packt“? Picasso…

Solche Sachen wusste Jan.

Irmina musste lächeln. Ja, so war ihr Jan. Ein gut aussehender fleißiger Mann mit wenigen Fehlern. Ein Nachdenklicher, der nicht viel redete und auf den sie sich immer verlassen konnte. Einer aber auch, der ihr manchmal vorkam wie ein Fremder.