FEIERABEND

sommer zwanzichfuffzehn XXIII

Einmal hatten Irmina und Jan – die aus Polen im feindliche Berlin gestrandet waren – nebeneinander im Dunklen gelegen, und sie hatte es gewagt. „Was denkst Du gerade“, hatte sie ihn gefragt.

Zu ihrer Überraschung hatte der Mann neben ihr begonnen, im Schutz der Nacht zu reden:

Jan hatte von dem Gespräch mit seinem Vater erzählt.

„Paps, Irmina will in den Westen.“

„Und?“

„Ich will, glaub’ ich, nicht.“

„Dann geh nicht.“

„Aber sie sagt, dann wird es den Kindern gut gehen.“

„Sie weiß doch nicht, wie es da ist, da drüben. Hier kennt Ihr Euch aus – und hier habt Ihr doch alles, was Ihr braucht.“

Da hatte der Papa Recht gehabt. Jan brauchte kein Mallorca, um zufrieden zu sein.

Und doch war er mit seiner Frau – der netten patenten Blonden mit guten Brüsten – in den Westen gezogen. Alles Gehabte hatten sie in Polen gelassen. Alles, was er übers Leben gelernt hatte, würde er vergessen müssen.

 

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Er war in so einem Straßendorf zum Menschen geworden. Am Ortsweiher hatte es gar ein Standbild gegeben. Irgendein Fürst Vinzenz oder so. Es gab auch ein Museum über den Krieg, davor einen Panzer, der groß wie ein Fußballtor war.

Dort war Jan zum Jungen geworden.

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Es war einmal. FOTOS: BARBARA VOLKMER

Zweimal am Tag fuhr der Bus in den Westen. Jan  hatte sehr schlichte Klamotten. Sachen von Adidas oder so konnten sich die Eltern nicht leisten. Die Mutter kaufte einmal im Jahr beim Discounter ein. Da sahen die Stücke noch ganz annehmbar aus. Aber sie verschlissen schnell, die Farben verblassten – und das sah nicht edel, nicht nach elegantem Frankreich, aus.

Jan war ein klepperdürrer Junge mit ungebärdigem schwarzen Haar. Er machte nie Probleme. Manchmal wünschte sich sein Vater, ein lebensfroher Mechaniker, der eine kleine Landwirtschaft nebenbei betrieb, sein Sohn würde sich öfter durchsetzen. Der kam nie von einer Prügelei nach Hause, der zerriss sich beim Fußball nicht die Hose, der war so fürchterlich pflegeleicht.

Ach, sagte Jans Mutter, besser so, als ein Junge wie die meisten anderen. Die rebellierten mit 13, 14 und ließen sich nichts mehr sagen. In der nahen Stadt, das wusste jeder, gab es Drogen. In der Zeitung hatte gestanden, würde jetzt nicht mehr nur mit diesem Heroin gehandelt. Da importierten die Russen jetzt etwas Neues, das die Kinder schneller als alles andere ins Grab bringe.

Sie bete jeden Abend, sagte die Mutter, dass Jan so brav bleiben würde.

Sie brauchte nicht zu beten. In dem jungen Mann steckte nicht die zornige Ungeduld der Altersgenossen. Er hatte in aller Stille seine eigenen Ziele festgelegt. Er wollte eine zuverlässige Frau, die ihm brave Kinder gebar. Er wollte es im Beruf zu etwas bringen. Ein Auto, ein kleines Haus, eine Sicherheit, ein Wissen um den verdienten Feierabend – mehr wollte er nicht.

Dafür strengte er sich an. Schon als Schüler arbeitete er an seiner sicheren Zukunft.

Ohne Schwierigkeiten schaffte er es auf die höhere Schule in der Stadt.

Der Bus war klapprig. Jan setzte sich jeden Morgen auf den Fensterplatz hinter dem rückwärtigen Ausstieg. Selten musste er noch etwas für die Schule vorbereiten (das war alles schon zuhause geschehen), also sah er aus dem staubblinden Fenster. Sie fuhren durch die Felder – ein paar kleine gehörten dem Vater, dort musste er im Sommer bei der Ernte helfen -, kamen an die Peripherie der Stadt. Da hätte er nun wirklich nicht leben wollen, in diesen verfallenden Plattenbauten, wo alte Menschen Kissen auf die Fensterbänke gelegt hatten und auf die verkraterte Straße stierten.

Sie kamen an dem kleinen Park vorbei, in dem schon morgens Männer mit verwitterten Körpern die Flaschen kreisen ließen. Später am Tag würden dann  junge Männer den Park einnehmen und ihre Geschäfte dort abwickeln.

Die Schule lag im Zentrum. Ein großer immerdunkler Ziegelbau. Drinnen noch Linoleum und hellblaue, weiße und schmutziggrüne Lackfarbe an den Wänden. Wackliges Mobiliar, unter den Tischflächen pappten Kaugummis. Lehrer aus vergangenen Zeiten und Lehrer in Jeans und mit Träumen vom Westen.

Jan liebte die Schule. Dort gab es Bücher, und die Menschen redeten über Dinge, die er wissen wollte. Nach dieser Schule gab es eine Zukunft.

Er war kein Genie, wollte er auch gar nicht sein. Aber er wollte zu den Guten gehören. Also sorgte er dafür, dass es so war.

Manchmal kam der Bus im Winter überhaupt nicht. Es konnte überfallartig schneien, und der Wind blies so stark, dass die Verwehungen den Verkehr eine Weile lahm legten. Dann stapfte Jan – obwohl die Mutter schon ahnte, dass er es vergeblich tun würde und ihm anbot, zuhause zu bleiben – in seinem verschossenen hellroten Anorak und mit der Bommelmütze auf dem Kopf zur Haltestelle. Dort wartete er allein – die anderen Kinder hatten natürlich die Häuser nicht verlassen – und wartete eine halbe Stunde. Dann marschierte er zurück.

Daheim packte er die Bücher auf den Küchentisch und dachte nach: Was würden die Anderen in der Schule wohl dran nehmen? Was für Hausaufgaben würden sie gestellt bekommen?

Wenn er sich darüber im Klaren war, lernte er auf eigene Faust, erledigte die Hausaufaufgaben und packte die Tasche für den nächsten Morgen.

So einer war Jan. Das ist nicht normal, wunderte sich der Vater. Das ist doch wundervoll, freute sich die Mutter. Und Jan? Der hoffte nur, dass anderntags die Straßen frei sein würden.

In Jans Haus hatte es immer schlecht gerochen. Wenn man die Türe öffnete: Kohl, Bohnerwachs, alter Knoblauch, Zwiebeln, altes Fleisch. Ab und zu vergaß jemand, die Tür zum Hinterhof zu schließen – dann roch es nach Latrine.

Aber das störte niemanden.

„Mein Liebster, setz‘ Dich“,  sagte die Mutter. Sie wischte noch einmal übers Wachstuch.

Er packte seine Schulsachen aus und machte die Hausaufgaben. Um ihn herum roch es nicht und es war nicht. Nur er und seine Hausaufgaben.

So einer war Jan.

 

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Irmina war – nach einem Gang ins Kinderzimmer – eingeschlafen. Sie wurde mühselig wach, als der Schlüssel in der Tür ging.

Ihr Mann sah zum Erbarmen aus.

„Komm rein“, sagte sie.

„Komm.“

Er taumelte vorbei.

“Und?”, fragte sie.

Er ließ sich in den Fernsehsessel fallen. Er stank nach Bier. “Scheiße”, sagte er.

“Scheiße war das. Ganzer Tag Arbeit – und dann sind sie nicht gekommen.”

“Was? Kein Keld?”

“Nein, kein Geld.”

Wieder so ein Tag, der ihn dem Abgrund näher gebracht hatte.

 8. august 2015