STEINE

Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. An den letzten Tagen sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, jeden Morgen um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen.

Fred: müde. Mies gelaunt. Kippt den Schnaps mit Widerwillen. Spült nach. Ruft über den Tresen, mit schwerer Stimme, man möge ihm noch eine Runde bringen, nun sei es auch schon egal.

„Mann, bin ich fertig.“

Biene: mitfühlend. Wach. Sehr rote Lippen. Tut Zucker in den Kaffee.

„Komm, wir geh’n nach Hause. Is noch nich mal sechs. Wir gehen was frühstücken. Dann kannste erzählen.“

„Erzähln. Erzähln. Das kannste nich erzähln. Das musste erleben.“

Aber die Kumpels lassen’s nicht gelten. Er solle berichten, was ihm widerfahren sei seit Freitagabend.

Sie wissen: Wenn Fred bleibt, ist das förderlich für die Stimmung.

Fred lässt also die Geschehnisse aufleben.

 

Am Freitag war er bei den Stones. 67000 People im Olympiastadion. Eine Woche hatten die Roadies zum Aufbauen der Bühne gebraucht, mit 70 Trucks sind die Stones unterwegs.

Er, Fred, schon vier Stunden vor Konzertbeginn in der U7. Rappelvoll. Beim Umsteigen an der Bismarckstraße sieht er doch glatt den „Zecke“ auf der Rolltreppe. „He, Zecke, Du Penner“, ruft Fred. „Zecke“ dreht sich um, er ist es.

Nee, das glaubste nicht. Der „Zecke“. Fred hatte gedacht, der sei schon abgetreten. Seit Jahren hat er nix mehr von dem gehört. Das letzte Mal erzählte einer, der „Zecke“ wohnt nicht mehr in Kreuzberg, der musste in die Gropiusstadt. Hartz IV, total verpeilt.

Aber etwas Genaues hat niemand gewusst.

 

Also, da rollt er hoch, dreht sich um und sah verdammt alt aus. Lange schmierige Haare, aber auf der vorderen Kopfhälfte wächst nichts mehr. Ein paar Zähne fehlen, die Augen sind karnickelrot.

„Der Fred“, sagt „Zecke“ und wäre am liebsten nicht da.

Denn da gibt es noch eine offene Rechnung.

Mann, wie lange ist das her?

Ist auf jeden Fall vor dem Mauerfall gewesen.

 

War in Kreuzberg, in der Nähe vom Moritzplatz. „Nassauer Eck“ hieß die Pinte.

 

Man hat gebechert bis zum Morgengrauen. Ist raus getreten, es hat nach DDR gestunken, ein paar Arbeiter sind längslang geradelt. Der „Zecke“ hat Unsinn verzapft, schon den ganzen Abend hatte er Quatsch geredet.

„Jetzt halt mal endlich ‘s Maul“, sagte Fred, er war übermüdet und reizbar, außerdem hatte er Sorgen.

„Wat?“, schrie „Zecke“.

„Maul halten!“

Da verpasste ihm „Zecke“ eine. Nicht schlimm, aber Fred war eben wacklig auf den Beinen und fiel gegen die Hauswand.

Kein Putz. Alte zerfressene Ziegel. An denen musste sich Fred festhalten. Er rappelte sich, entlang der Ziegel, hoch.

„Was willste? Brauchste Dresche?“

Brauchte der Andere nicht. Der war feige und wollte nicht kämpfen.

Man hat sich nicht geschlagen, man hat gerangelt.

Fred hat „Zecke“ in den Schwitzkasten genommen, weg geschubst, wollte ihn boxen.

Da war der auch schon weg. Ist ganz schön geflitzt.

 

Seither hat man sich nicht mehr gesehen.

Es ist furchtbar eng in der U-Bahn zum Olympiastadion. Fred riecht, dass es „Zecke“ nicht gut geht. Der Mann ist ungewaschen, stinkt aus der Kleidung, aus dem Mund, aus den übrigen Haaren.

„Was ist? fragt Fred. „Wo stehste?“

Sie stellen fest, dass sie Karten im selben Block haben. Trinken noch zwei Bier – dann rein ins Getümmel. Nach dem Konzert am Bierstand, das ist die Verabredung.

Der kommt oder er kommt nicht, denkt Fred. Ist egal.

 

Geil!

Die Stones!

 

Ick seh‘ ne rote Tür und will se schwarz anmalen.
Keene Farben, nirgends – aber ick willse schwarz ham.
Ick seh‘ die Mädchen mit ihre Sommerkleidchen.
Muss weg gucken, bis et nich mehr finsta ist.

Ick seh‘ in mir rin, mein Herz is schwarz.
Ick seh‘ meine rote Tür und will se schwarz anmalen.
Kann sein, dass ick dann verschwinde und nix mehr seh‘.
Ist nich leicht, rauszujehn, wenn die Welt schwarz is.

 

Fast jeder Bulle is ‘n Kriminella,
Und alle Sünder sin Heilije.
Wie Köpfe Schwänze sin – sacht also Luzifer zu mir.
Habt mer lieb und habt ‘n bissken Anstand.
Oda ick verwirr‘ eure Seelen

 

Sie hat jesacht „Meine Brüste kriegste immer,
Baby, du kannste Dein müdn Kopf bei mir ausruhen.
Bei mir kommste immer unter in mei‘m Parkplatz.
Wenn du ‘ne Coke und ‘n bissken Liebe brauchst.“

 

Mir hat ‘ne Boa jebissn,
Abjezockt hams mir und aufjespießt.
Aber ick hab’s durchjezogen.
Ick bin ‘n Sack voll zerbrochene Eier.
Ick hab‘ immer ‘n unjemachtet Bett.
Du nich?

 

Ick krieg keene
Sätisfäktschn.
Ick krieg keen
Mädchen, mit dem et losjeht.
Wat ick versuch un versuch un versuch un versuch.
Ick krieg keene,
Ich krieg keene
Sätisfäktschn.

 

Fred vergisst sich. Fred erinnert sich. Er ist der junge Mann mit den Hoffnungen. Der glaubt, seine Geschichte habe keine Endlichkeit. Er ist der, der die Nacht nicht enden lässt und den Tag danach übersteht. Stark ist er, unbesiegbar, mag den Rausch, sucht den Rausch. Sich zudröhnen: das Höchste.

Fred vergisst an diesem Abend bei den „Stones“, dass die Zeit abgelaufen ist. Dass er die Zipperlein hat, dass keine Frau mehr nach ihm sieht, weil er ein abgewerkelter alter Mann ist. Dass die Zukunft vorbei ist. Er vergisst es und brüllt sätisfäktschn.

Zweieinhalb Stunden, dann geben die „Stones“ Ruhe. Die jung gewordenen Menschen bekommen wieder alte Gesichter und drängen durch die Ausgänge in die Stadt.

Fred stellt sich an den Bierwagen und wartet. Vielleicht kommt „Zecke“ ja doch.

Und da isser.

Schlagseite hat er.

„Geil, wa?“

„Ja, echt geil.“

Fred gibt eine Runde aus.

Man trinkt zügig.

„Was machma jetz?“

„Weiß nich.“

„Vielleicht Tanke. Is nich so teuer.“

„Hast Recht – Tanke.“

„Weißte eine?“

„Oben an der Heerstraße. Aral. 20 Minuten, zu Fuß.“

Ja, sagt „Zecke, das klinge gut. Aral sei prima. Dann werde man mal aufbrechen.

„Und dann kaufn wir ein.“

Sie freuen sich schon mal vorab.