SIE-CHTUM

TANZ DER VIREN II, Folge 88

Da fährt einer mit dem Bus ums Nordende des Starnberger Sees, in Berg steigt er aus, wandert hinunter zum Schloss und zur Votivkapelle; er schaut aufs Kreuz im See und versucht ein Gefühl für Ludwig II., den „Märchenkönig“, zu haben. Aber der Mann fühlt nichts und weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen, also wandert er hügelwärts. Im Ort fällt ihm ein kleines weißes Auto auf, mit einer adretten Blonden am Steuer. „Ambulante Krankenpflege“ steht auf der Fahrertür, die blonde Frau sieht mürrisch aus, sie scheint den Fußgänger Franz gar nicht wahrzunehmen.

FRANZ: Aber ich habe ihr ins Gesicht sehen können. Da habe ich mir gedacht, dass sie uns hier in der Klapse wohl was ins Essen geben. Früher hätte ich mir was Erotisches gedacht – aber da in Berg: Nix, gar nix.

JEREMY: Ach, Du denkst das auch? Ich habe mich gefragt, ob es normal ist und ob ich der Einzige bin, so ohne Bock.

LINA: Wennst hier bist, ist halt das Schnackseln kein Thema. Da mache ich mir keinen Kopf.

JOSEF: Ich weiß nicht, was Ihr habt. Ist doch okay, wenn das mit dem Sex nicht so wichtig ist. Wenn ich dran denke, was für Probleme ich wegen der Frauen schon gehabt. Da geht es mir jetzt blendend.

LINA: Was ist jetzt? Wollen wir übers Ficken reden, oder wollen wir die Geschichte vom Franz hören. Da gibt es doch eine Geschichte, oder?

FRANZ: Ja, schon.

JOSEF: Dann erzähl halt.

FRANZ: Ich geh‘ weiter den Hügel hinauf, bis ich an eine Bank komme. Ich setze mich, und auf einmal geht es mir ganz gut. Ich habe über den Ort und den See schauen können, am anderen Ufer war Starnberg in der Sonne. Ich habe mich ein bisschen gefühlt wie als junger Mann. Keine großen Sorgen, nicht Besonderes geplant. Habe nur gesessen und geschaut. Eine halbe Stunde, vielleicht länger. Ich habe ja viel Zeit gehabt, bis ich wieder zum Bus musste.

Da ist unten auf der Straße wieder das weiße Auto gefahren, mit der blonden Frau am Steuer. Sie hat es schon wieder eilig gehabt. Ist aus dem Ort gekommen, den Berg rauf gefahren, hinter dem Hügel verschwunden.

In meinem Kopf war plötzlich ein Film. Ich bin gleichzeitig ziemlich erschrocken und war erleichtert. Wie wenn ich eine Gefahr überstanden gehabt hätt‘.

LINA: Was ist passiert?

FRANZ: Wie gesagt, es war wie ein Film:

Die Blonde kommt in Berg zum Patienten. Ich habe mir ausgemalt, sie fährt vor einem großen Bauernhof vor, der Balkon vom Haupthaus hängt voller Geranien, im Hof stehen teure Landmaschinen, die Bäuerin schaut zur Stube raus und schreit der Blonden zu, sie wisse ja, wo es lang geht, der Opa warte schon.

Die Blonde geht durch den dunklen Gang bis zum Ende, dann öffnet sie die Tür zum Zimmer vom Opa.

Es riecht nicht gut, die Bäuerin hat das Bett nicht gewechselt, obwohl der Opa eingenässt hat.

Die Blonde – sie ist aus Polen, habe ich mir gedacht – wäscht den Opa, kämmt ihm die wenigen Haare auf links. Sie räumt ein wenig im Zimmer auf und ordnet die Sachen auf dem Nachtkastl. Sie gibt dem Opa seine Medikamente und cremt mit einer Wundsalbe seine Armbeugen ein.

Der Opa ist grantig, fortwährend murmelt er Flüche. Die Blonde packt dreckige Wäsche zu einem Bündel, sie streichelt dem schimpfenden Opa übers Gesicht, sagt „Tschüss“ und etwas Liebevolles auf Polnisch.

Dann muss sie weiter.

Auf dem Rückweg bringt sie der Bäuerin die Wäsche. Die schaut sie gar nicht an, graunzt: „Schmeiß do ins Eck, des Glump!“

Dann ist die Blonde fertig. 25 Minuten hat sie gebraucht. Jetzt muss sie aber schnell weiter.

Franz verstummt. Die Anderen schauen ihn an, sie warten auf mehr. Mehr kommt aber nicht.

JEREMY: Was? Was? Das war alles? Das ist die ganze G’schicht?

FRANZ: Ja. Das ist die ganze Geschichte. 25 Minuten – dann geht es zum Nächsten, der stirbt. Das ist die ganze G’schicht.

© BILDKUNST JOHANNES TAUBERT