SCHRIFTSTÜCKE

„2017”*, Folge 44, 31. Oktober. In Deutschland ist Feiertag – das 500-Jahre-Luther-Fieber am Siedepunkt.

 

Es ist kein Zimmer, es ist eine Abstellkammer. Max hat kein Fenster, durch das er nach draußen sehen kann. Die Tapeten sind speckig, die Wachsdecke auf dem Tischchen hat Brandlöcher – obwohl er im Haus nicht rauchen darf, steckt Max sich manchmal heimlich eine an, wenn er Zigaretten besitzt. Der Stuhl wackelt, der schmale Schrank macht’s nicht mehr lang. Das schmale Bett hat Max schon als Jugendlicher beschlafen. Wie ein Gebirge türmen sich Plumeau und Kopfkissen auf, sie sind schon lang nicht mehr gewaschen worden.

Es riecht muffig. Nach Wiener Würstchen aus der Dose, abgestandener Limo, nach Orangenschale und schlechtem Alkohol-Schweiß.

Max ist stolz auf sein Zimmer. „I hob’s glei“, erklärt er und verschwindet schnaufend mit dem Arm unterm Bett. Er zieht eine Schublade nach vorn.

Kinderbücher, ein paar zerfledderte Sexhefte, Spielzeug, schmuddliger Krimskrams.

„Do! Do is‘!“

In einer großen Zigarrenkiste sind die Papiere und die Hefte verwahrt. Das sei alles vom Martl, sagt der Max. Er könne es eh nicht entziffern, der Hanse möge es ruhig mitnehmen.

Wenn er wolle.

Sicher, antwortet Hans Krohn. Er möchte schnell wieder aus dem Zimmer. „Komm, Max, ich schulde Dir was. Lass‘ uns in die Wirtschaft gehen.“

Nein, das schicke sich nicht. Es sei gerade mal zwei durch, und Max lasse sich nie vor drei am Stammtisch blicken. Man sei ja kein Säufer.

„Ich geb‘ Dir bis um drei das Bier aus.“

Das sei was Anderes.

 

Außer den Beiden ist nur der junge Bursch vom Vortag am Bieren. Max nimmt seinen Platz unterm Bärtigen-Bild ein, Hans setzt sich mit dem Rücken zum Kachelofen und packt die Papiere aus der kleinen Kiste.

Der Martl hat Notizen auf Zeitungen und Broschüren gemacht. Leeres Papier – kariert, liniert, blank – von Notizblöcken hat er verwendet. Und es gibt zwei Hefte, von der ersten bis zur letzten Seite voll geschrieben.

Martl hat eine fahrige Schrift gehabt. Eher große ungelenke Buchstaben. Mit den Satzzeichen hat er es nicht wichtig gehabt, manchmal sind ihm bessere Wörter eingefallen, als sie im Duden zu finden sind. Es gibt Passagen, da hat Martl seine Texte mittig gesetzt, sollen wohl Gedichte sein. In den Heften gibt er sich Mühe, der Zettelkram ist ein wüstes zorniges Chaos.

Hans Krohn vergisst sein Bier, es wird lack. Derweil bestellt der Max eifrig noch eins und noch eins. Bis drei Uhr ist‘s laut Verabredung Freibier – das muss man ausnutzen. Ganz glücklich ist der Max, weil er sich so haltlos betrinken kann.

Damit der junge Mann auch Ruhe gibt, bekommt er ebenfalls ein Weizen auf Kosten Krohns hingestellt.

Ungläubig erkennt Hans Krohn, dass er Martl, seinen besten Freund gar nicht recht kannte. Dieser Schreiber der Papiere aus der Zigarrenkiste ist ein Fremder. Krohn ist bestürzt – wie hat er das übersehen können?

Dieses Unglück.

Diese Ausweglosigkeit eines Lebens.

Dieses Verzweifeln und wütende Sich-Wehren.

Dieses Taumeln, Rutschen, Fallen.

Dieses Am-Ende-Sein, die Einsamkeit, das Aufgeben.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.