PAUL, MAX

Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. An den letzten Tagen sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, jeden Morgen um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen.

 

Dreiviertel sechs auf der Afrikanischen Straße, Haus 144.

Hier ist Paul Gurk gestorben.

Schon lang her ist das.

 

Ein Mann tritt aus dem Haus. Er ist mager. Hat eine Arbeitshose an, die über dem Knie endet. Das wird wieder ein heißer Tag auf dem Bau.

Das schmuddlige T-Shirt schlackert um den ausgedörrten Körper des Mannes. Der Rucksack mit den Stullen und der Wasserflasche baumelt von den Schultern. Lichtes Haar, zerarbeitete Hände, aufgetragene Schuhe.

Ein ungelüftetes Gesicht.

Der Mann bleibt vor der Tür stehen, fingert eine Packung aus der Hose, zündet sich eine Zigarette an. Raucht gierig und freudlos. Er grüßt eine Frau, die den Rollator an ihm vorbei schiebt.

Der Mann heißt Max. Er ist immer müde. Nach dem Aufstehen möchte er am liebsten gleich wieder ins Bett. Seine Bewegungen sind von großer Traurigkeit. Er lacht selten und ist nicht froh dabei. Seine Frau nimmt er nicht mehr wahr, die Kinder gehen ihm auf die Nerven, wenn sie zu Besuch sind.

Am Wochenende setzt er sich in den Kleinen Tiergarten und nimmt sich Zeit. In der Thermoskanne ist Tee, im Rucksack sind Obst und Brot. Er hat die Zeitung gekauft und studiert sie.

Todesfälle und Verbrechen. Frau Merkel und Herr Trump. Die Bundesliga. In der Beilage werden Smartphone-Alleskönner angeboten. In Pankow kann man Doppelhaushälften kaufen. Stellen sind auch ausgeschrieben – natürlich keine, für die er gut wäre.

Er muss froh sein mit dem, was er hat.

Was Anderes gibt’s nicht für einen wie ihn.

Er muss froh sein, dass er diese Wochenenden auf der Parkbank für sich hat.

Muss er wirklich froh sein?

 

Max schnippt die Kippe weg und setzt sich in Gang. Obwohl er gut zu Fuß ist, wirkt er wie einer, der ein Bein nach zieht.

 

Hier hat auch Paul Gurk gelebt. War auch so ein dünner Spargel. Hatte kein Geld für Klamotten, hatte zu wenig, um sich was Anständiges zum Essen zu leisten. Gurk war immer klamm. Das machte grundzornig. Denn er hatte es nicht verdient, so arm zu sein.

Gurk ist ein großer Schriftsteller gewesen. Hat alles auf eine Karte gesetzt und sich früh in den Wartestand versetzen lassen. Da war er gerade mal 53 und beamteter Obersekretär. Hätte gut bis zur Rente durchhalten können und wäre nicht arm gewesen.

Aber er wollte vom Schreiben leben. Wäre doch gelacht! Als Junger hatte er den Kleist-Preis bekommen, und die Kollegen waren sich einig, dass der Gurk ein Großer war. Der ließ sich nicht mal vorschreiben, nach welchen Regeln er schrieb. Der ließ einfach die Wörter und die Sätze los.

Der Doktor lachte leise und ein wenig spöttisch. „Das Geschäft hat sich eingeregnet, nicht wahr?“

„Ich müsste mein Zelt erweitern und Kaffee und Kuchen oder Bier mit Würstchen und Salzstangen dazu verkaufen. Das würde gehen“, sagte Eckenpenn.

„Famos!“ rief Doktor Seidenschwanz. Er klopfte zweimal an die Nase, überlegte und sprach dann: „Warum tun Sie’s nicht? Ein fliegender Buchladen in Verbindung mit fliegender Wurst, Geist und Körper in einer geschmackvollen Verbindung: das wär doch etwas Neues! Ein japanischer Miniaturwertheim.“

Am Vormittag ging der Buchtrödler spät aus seiner Kammer. Frau Lehnert hatte ihn erst durch einen Besenstiel, der gegen seine Tür polterte, wecken müssen. Denn da er nur eine Schlafstelle bezahlte und mithin der Schlaf zu einer angemessenen Morgenstunde beendet sein musste, entzog er seine Kammer durch zu lange Nutzung der freien täglichen Verfügung der Wirtin. Frau Lehnert pflegte in ihr Körbe abzusetzen und Wäsche aufzuhängen. Krankheit war nicht vorgesehen. Ein solcher Fall löste die Vereinbarung und war gleich Kündigung, und auch das Krankenhaus nebst Kapelle und Leichenhaus war ganz in der Nähe.

Der Buchtrödler blickte scheu hinüber. Das Schicksal, hier auslöschen zu müssen, zu sterben unter Menschen, mit denen er nicht hätte leben wollen, sah ihm gelassen und fürchterlich ins Gesicht.

 

Gurk ist verreckt. Hat es nicht geschafft, irgendwie. Gurk hat geschrieben wie gehetzt. Manchmal ist er einen Text los geworden, manchmal hat es keinen Schwanz interessiert. Die Arrivierten – die Brechts und Döblins und Manns und Tucholskys – waren froh, dass er ihnen nicht in die Quere kam.

Der Mann war gefährlich.

Hat sich nichts geschissen.

Existenzialismus?

Realismus?

Neue Sachlichkeit?

Surrealismus?

War ihm doch egal. Er hat geschrieben, wie er es lebte.

Dann ist er verendet. Am 12. August ’53. 73 war er da, war es finito mit seiner schmalen Zähigkeit.

Paul Gurk: Bis zum Schluss erzählend, schreibend, nicht mehr richtig lebend, verbitternd.

Heut‘ hat er ein Ehrengrab.

 

Max weiß nicht mal, was ein Ehrengrab ist.

Er hat nichts zu erzählen.

Wer will schon wissen, wieviele Karren er auf der Baustelle geschoben hat. Was für Witze sich die Kollegen zum zigsten Mal erzählt haben. Ob die Frau die Haare plötzlich kürzer hatte. Wie es war, vor dem Kreissaal. Wie es war, in der Cottbuser Vorstadt, als er das Radfahren mit dem großen Bruder lernte. Wie es war, als sich der große Bruder mit 19 aufgehängt hat. Wie es war, wenn der Vater zu trinken begann (das tat er täglich), wenn er Fortschritte mit dem Saufen machte, wenn er den Pegel zum Frauen-Prügeln hatte. Wie es war, wenn die Mutter heimlich weinte. Wie es war in der DDR, wo er, der Max, zu den Beschissenen gehörte, ihn wollten sie nicht mal als Stasi-Hiwi.

Max weiß nicht, wie sehr sich seine Biographie mit dem Leben eines Paul Gurk deckt.