PASST SCHON!

Berlin, 5. November 2016     Gerd Schönfelder hat 16 Goldmedaillen bei den Paralympics gewonnen. In seiner Heimat ist er ein Star. Zieht er sich jetzt ins Private zurück? Schmarrn, sagt Gerd, nun beginne der nächste Abschnitt des Lebens. Was auch immer es sein wird – er wird es wuppen. Denn ein Nein akzeptiert der „Sieger“ (die Biographie ist soeben erschienen bei der „Werkstatt“) nicht. „Geht nicht gibt’s nicht. Da ist immer ein Weg.“

 

 

Gerd ist allein im Wald. Er hat sich vom Parkplatz zur oberen Loipe am Fichtelberg geschoben. Das ist schon ausgesprochen anstrengend, wenn jemand ein guter Sportler ist und zwei Arme zum Puschen hat. Schönfelder aber muss die meiste Arbeit mit den Beinen machen. Die Schlittschuhschritte bergauf gehen an die Substanz. Als Gerd die Rundloipe erreicht, rast der Puls im Grenzbereich.

Der einsame Langläufer macht keine Pause. Er gleitet nun schnell und fast geräuschlos vorwärts. Der Winter ist über Nacht noch einmal zurückgekommen, nun beginnt es wieder zu schneien. Schönfelder hört das Schweigen des Waldes nicht. Er sieht auch nicht den Fuchs, der auf der Loipe gesessen hat und sich schnell verzieht, als er den Menschen ausmacht.

Der Mann hat seinen Rhythmus gefunden. Gleichmäßig setzt er die Skier, stößt mit Kraft ab und kommt voran. Gerd Schönfelder ist eins mit dem Sportgerät und seinem Denken und der Natur.

 

»Das ist doch das Ziel. Dass dir die Bewegung leicht vom Fuß geht. Die Technik ist sauber, du hast das Gefühl, du könntest ewig so dahin gleiten.

›Es‹ läuft. Du spürst die kalte saubere Luft, es ist, als ob du dich reinigen würdest. Im besten Fall ist da nicht einmal eine Anstrengung. Dann fangen auch die Gedanken das Fliegen an. Ich habe beim Lauf durch den Wald manchmal Einfälle, die ich sonst nie bekommen würde.«

 

 

Frau Schönfelder behandelt in der Praxis die ersten Besucher, die Kinder sitzen in der Schule. Das Fichtelgebirge gibt sich ungastlich und winterlich abweisend. Und Gerd Schönfelder zieht glücklich seine Bahnen. Er muss sich auf keinen Wettkampf vorbereiten, er hat alles gewonnen.

Manchmal – ja, das gibt er zu – geht mit ihm der Egoist durch. Wenn er merkt, dass er zu wenig Sport in den Muskeln hat, »dann haue ich einfach für ein, zwei Stunden ab. Ich brauche das, denn ich weiß, dass ich als anderer Mensch  zurück komme. Dann lassen sich alle Probleme leichter lösen.«

Es ist anspruchsvoll, eine Familie zu lenken. Christina beginnt nach dem Aufstehen mit dem Multitasking und beendet den Tagesjob, wenn sie abends ins Bett schlüpft. Dann hat sie noch eine halbe Stunde für sich, liest in einer Geschwindigkeit, die Gerd noch immer nicht begreift, in einem der Bücher, die sie gerade in der Mache hat. Dreht sich um und schläft sich fit für den nächsten Tag.

Manchmal haben sie wenig Zeit füreinander.

Wie oft sie ernsthafte Gespräche führen?

»Schon«, sagt er, »immer wieder.«

Sie hält sich mit der Antwort zurück.

Wann das denn möglich sei – so eine Unterhaltung? Wenn die Kinder im Bett sind? Wenn man sie in die Schule gebracht habe? Beim Spaziergang?

»Spaziergang ist gut«, wirft er ein. Sehr gut.

»Aber Gerd, nicht so oft. Wir kommen nicht so oft dazu. Schau, gestern: Da haben wir zehn Minuten für uns gehabt.«

Er überlegt. Ziemlich nachdenklich ist er jetzt. Christina ist eine kluge Frau. Er weiß, was sie sagt, hat Hand und Fuß.

Gerd Schönfelder lässt den Vortag Revue passieren.

Stimmt, recht hat sie. Zuerst erledigte jeder tagsüber seinen Job. Abends saß die ganze Familie am Tisch, danach wurden die Hausaufgaben begutachtet, die Kinder hatten viel aus ihrem Leben zu berichten. Es waren unter den Eltern noch ein paar Dinge zu besprechen – nichts Dramatisches, aber Christina und Gerd mussten sich aufeinander konzentrieren.

»Mama!« »Papa!« Lebhafte Kinder sind ein Segen – aber sie halten einen auf Trab.

Ein Gespräch von Frau zu Mann, über dies und das, ungestört und ungehört?

»Mama!« »Papa!«

»Stimmt«, sagt Gerd Schönfelder. »Viel Zeit zum Reden war gestern nicht. Wir haben den Kindern irgendwann gesagt, sie sollen sich eine Weile allein beschäftigen. Dann haben wir die Türe zugemacht und geredet.

So ist er nun mal, der Alltag verantwortungsbewusster Eltern.

Bei den Schönfelders wie in Millionen anderen deutschen Haushalten auch.

 

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Das fühlt sich doch gut an: Söhnchen Leopold auf dem Arm, “Schmalz” in den Beinen – und immer auf der Überholspur. Fotos: Barbara Volkmer

 

Es ist behaglich, nach dem Sport am groben Holztisch zu sitzen. Christina und die Kinder kommen bald, aber noch ist das Haus ruhig wie ein Kloster. Draußen schneit es wieder leicht.

Schönfelder sieht lächelnd aus dem großen Fenster und erinnert sich, dass er noch vor zwei Stunden durch den Wald geastet ist. Vorbei am Freund, dem Fuchs. Mit großer Kraft durch den Forst, in dem der Sage nach die Riesen mit den gigantischen Felsblöcken kegeln.

Nun sitzt Gerd Schönfelder vor dem Kaffee und genießt es, dass er einen guten Tag hat.

Es ist schön, dass gleich die Sippschaft anrückt und Leben in die Bude bringt.

Es ist schön, der Frau zuzusehen, wie sie alles im Griff hat.

Es ist ein Glück zu wissen, dass nebenan die Eltern viel lachen.

Es ist ein Glück, mit dem Löffel im Kaffee zu rühren.

Was für ein Luxus: eine Zukunft zu haben.

»Weißt was?«, fragt er.

Es ist ein Monolog, bei dem er sich nicht stören lassen will.

»Weißt was? Manchmal fragen mich Leute, denen ich zum ersten Mal etwas erzähle, ob ich nicht fürchterlich verzweifelt bin.

Warum?, sage ich.

Na ja, sagen sie, das Unglück hat mich ja haarscharf getroffen. Der Stau auf der Autobahn hätte kürzer oder zäher sein können. Nur ein paar Autos mehr oder weniger. Der Kollege wäre bei Gelb über die Ampel gefahren. Ich wäre nicht so gerannt. Der Zug wäre nicht pünktlich gewesen.

Eine Kleinigkeit anders an diesem Tag – und der Arm wäre noch dran und mein Leben mit Sicherheit völlig anders verlaufen!

Dann denke ich an mein Leben und die Menschen um mich herum. Dann denke ich an den Märzschnee im Gesicht.

Und ich kenne die Antwort: Das hat alles seinen Sinn.

Besser ausgedrückt: Passt schon.«