KÖRPER-SCHNITZER

berlin, 4. november 2016    Gerd Schönfelder will keine Prothese. Nach langem Zögern lässt er sich auf eine Operation ein, bei der ihm ein Zeh vom Fuß an dem Stummel am Arm angeflickt werden soll (Auszug aus “Sieger”, erschienen bei der “Werkstatt”).

 

Der aufstrebende Chirurg Schmidt hat seinem Patienten am Abend vor der Operation noch einen letzten Besuch abgestattet. Nun fährt er mit dem Rad nach Haidhausen, macht sich etwas zum Essen, legt eine Jazzplatte auf und geht den Eingriff noch einmal durch. Handgriff für Handgriff. Es ist wie die Vorbereitung eines – sagen wir mal – Spitzenskifahrers auf ein großes Rennen. Jede Kuppe, jede Kurve, jedes Tor wird mental bewältigt. Dann legt man sich ins Bett und ruht sich für den wichtigen Auftritt aus. Frühstück. Auf dem Rad ins Krankenhaus. Schmidt sieht Schönfelder vor der Narkoseeinleitung noch einmal. Er beruhigt ihn und macht einen sehr sicheren Eindruck. »Das wird schon, Gerd. Wenn du wieder aufwachst, hast einen neuen Finger.« Gerd Schönfelder kaschiert seine Angst und wird in den Saal geschoben

Neun Menschen kümmern sich um Gerd Schönfelder. Ein Anästhesiespezialist und seine Assistentin haben den Patienten sanft unter Kontrolle. Am Fuß sitzen auf hohen Hockern zwei Chirurgen, hinter ihnen eine OP-Schwester. An der Hand arbeiten Schmidt und ein Kollege, hinter ihnen wartet die OP-Schwester darauf, was sie anreichen soll. Und es gibt eine weitere Schwester als »Springer.« Das Protokoll nimmt seinen Anfang. Am Fuß beginnen die Kollegen, den Zeh zu präparieren. Sie legen die vier Sehnen und die Nerven frei. »Alle werden minutiös herauspräpariert. Dabei achten wir darauf, dass wir genügend Länge bekommen, um später den Zeh an der Hand anzuschließen.« Zur selben Zeit beschäftigt sich Andreas Schmidt mit dem Präparieren der Hand. Er legt weitflächig die entsprechenden Nerven und Adern frei. Hat währenddessen ein Auge auf das, was unten am Fuß geschieht.

 

kontaktabzug-081

Bilder aus den Zeiten, als Gerd Schönfelder schon mitten drin ist in seinem “zweiten Leben” (Familienvater, 16-facher Paralympics-Sieger, Sportler durch und durch, ab und zu Promi-Fußballer). Zuvor muss er noch eine Operation über sich ergehen lassen, vor der er mächtig Bammel hat. Fotos: Barbara Volkmer

 

Es ist ziemlich ruhig im Saal. In Bogenhausen verzichtet Schmidt noch auf Musik (später, in Murnau, wird er ab und zu Jazz spielen lassen). Die Operateure und die Schwestern reden nur das Notwendigste, ruhig bitten sie um Skalpelle und Haken, lassen tupfen, wenn sich zu viel Blut ansammelt. Schmidt ist ein Steher im Saal. Isst nicht, trinkt nichts, operiert und operiert, bis der letzte Faden genäht ist. Dann wird etwas getrunken, anschließend darf zur Toilette gegangen werden. Es ist eine Spannung wie bei einem Wettkampf. Da geht der Torwart auch nicht zwischendurch aufs Klo.

Die ganze Operation bei Gerd Schönfelder gliedert sich in drei Akte.

1. Akt: HERRICHTEN DER HAND. »Lauter logische Vorarbeiten. Alles wird vorbereitet für die Aufnahme des Zehs. Streck- und Beugesehnen und Nerven werden präpariert. Der Knochen wird freigelegt und passend gemacht für den Zusammenschluss mit dem anderen Knochen. Und die Gefäße werden bereit gemacht – damit wir möglichst schnell für eine Durchblutung sorgen können. In der Regel nehmen wir die Ellenarterie.«

2. Akt: DIE ENTNAHME DES ZEHS AM FUSS. Die Schnitte hat der Chef angezeichnet. Das Bein wird mit einer Manschette »in Blutleere gelegt«, damit die Operateure sauber arbeiten können. Nun beginnen sie mit dem Durchtrennen der obersten Hautschichten, dem Herausarbeiten einer Vene direkt unter der Haut, dem Durchtrennen der Verbindungen zu den Seiten. Jetzt ist es sehr still im Saal. Millimeterarbeit, die Operateure haben nur noch ein nicht mal spielkartengroßes Stück Fuß im Visier. »Wenn der Zeh ganz herauspräpariert ist – inklusive der Arterie, der Vene, der beugeseitigen Nerven –, nehmen wir ihn ab. Dann muss aber gewährleistet sein, dass ich den Fuß auch wieder sauber verschmälern und verschließen kann. Das bedarf großer Umsicht – wenn wir da nachlässig arbeiten, hat der Patient später Probleme beim Laufen und Gehen.«

Zum Schluss dieses Akts wird der Zeh auf eine Kompresse im Sprunggelenksbereich gelegt. Er hängt jetzt nur noch an den Gefäßen, die ihn mit Blut versorgen. Nun testet Schmidt, ob der Zeh ausreichend durchblutet ist. Er drückt aufs Fleisch, es wird weiß, dann wieder fleischfarben. Alles so weit okay.

3. Akt: DER ANSCHLUSS AN DER HAND. Bevor der Zeh abgetrennt wird, kontrolliert Andreas Schmidt, ob alles im grünen Bereich ist. Er beginnt auch mit dem Verschließen des Fußes – da möchte er selbst Hand anlegen –, während der künftige »Finger« noch am Bein des Patienten hängt. Dann wird der Zeh abgetrennt. »Es beginnt die Ischämiezeit. Das Gewebsstück hat keine Durchblutung. Der Stoffwechsel findet unter Ausschluss von Sauerstoff statt. Jetzt sollten wir flott arbeiten. Wir haben maximal zwei Stunden fürs Anschließen. Entscheidend ist, in welcher Länge und in welcher Drehung ich den Zeh auf dem Fingerstumpf anbringe. Haargenau muss das passen. Ich muss also zuerst perfekt aufsetzen, dann erst kann ich die Verbindungen der Gefäße herstellen. Jetzt ist alles eine Millimeterarbeit. Das Ganze darf nicht massiv unter Zug kommen, es darf aber auch nicht zu lang sein. Beides würde den Blutfluss gefährden, vor allem bei Venen gibt es da ein massives Risiko.«

Auch hier ist der Blick fokussiert, niemand aus dem Team lässt sich ablenken von der Mikroarbeit mit Skalpell oder Präparierschere und mit den Minihäkchen, mit denen der Assistent die Haut hochhält. Freigelegte Nerven, Gefäße und Sehnen werden von der Schwester in feuchte Kompressen geborgen. Ab und zu murmelt Schmidt: »Obacht, da wird es jetzt trocken!« Dann arbeitet die Schwester nach. Ziel aller Verbindungen ist der ideale »Spitzgriff« von Daumen und gegenüberliegendem Finger. Nach der Operation müssen bei der Beugung die Flächen der beiden aufeinandertreffen. Dann wird nach langem Training der Patient auch wieder ein optimales Tast- und Greifgefühl haben.

»Jetzt stelle ich die Durchblutung wieder her. Nähe eine oder zwei Venen und eine Arterie. Es darf nicht mäandern, sondern muss eine minimale Vorspannung haben. Dann mache ich unterm Mikroskop ein Loch in die Arterie, einen künstlichen Seitenabgang – da wird angeschlossen.« Schönfelder bekommt wieder im ganzen Körper Blut, auch am neuen Finger. Die Ischämiezeit ist zu Ende. Der Zeitpunkt wird ins Protokoll eingetragen.

Schmidt besieht sich die »Arbeitsfläche«. Ist alles dicht? Ist der Zeh rosig, kann das Blut wieder abfließen? Der Operateur macht sich an die Nervennähte. »Ich habe mir ja vorher überlegt, wo ich was anschließe. Jetzt stelle ich mikrochirurgisch die Vereinigung her. Nervenfaszikel muss ›Stoß auf Stoß‹ auf Nervenfaszikel stehen – dann kann der Nerv wieder auswachsen.«

Ab in den Aufwachraum. In den ersten Tagen jede Stunde nachsehen, ob der Körper den neuen Finger annimmt. »Die Kuppe des Zehs ragt aus dem Verband. Die Schwester oder der Pfleger kontrollieren drei Dinge: 1. Farbe: Da muss dann notiert werden, er sei ›rosig‹. 2. Temperatur: Da soll stehen, er sei ›körperwarm‹. 3. Refill: Wenn man draufdrückt, wird der weiße Fleck schnell wieder rosig.«

Wie es beim Gerd war? Schmidt lehnt sich zurück und ist sichtbar froh. »Alles gut. Alles war gut. Rosig. Und körperwarm.«

Morgen: Happy End