NACHTLAGER

ENDZEIT 11 Die Sonne ist weg, die Flasche leer, der Olympiapark wird ungemütlich. Alois packt das Leergut ein, schultert die Ikea-Tasche und wandert vom Berg zur U-Bahn. Er sieht niemanden an, keiner registriert ihn.

Er ist ein gebeugter Mann mit schlurfenden Schritten. Die Laufschuhe werden es nicht mehr lange machen, die Hose wird durch den Gürtel am Körper gehalten, der Parka riecht nach Alkoholiker-Schweiß. Alois hat eine Matrosenmütze tief in die Stirn gezogen, seit Tagen hat er sich nicht rasiert, die Augen sind stumpf, mit geplatzten Äderchen.

Jetzt, auf dem Weg zur U-Bahn, unterhält sich Alois mit sich selbst. Er nennt die Stationen, die er anfahren könnte. Marienplatz (da stehen die Chancen, von der Bullerei aufgegriffen zu werden, nicht schlecht, so würde er für die Nacht im Warmen eingekastelt). Kolumbusplatz (da ist die Pilgersheimer nicht weit; man könnte zumindest mal beim Männerwohnheim vobeischauen, ob was frei ist; die Chance ist wohl eins zu tausend). Garching (ungestörter U-Bahnhof, relativ warm, selten Bullerei). Dietlindenstraße (von dort sind es dreihundert Meter zur “Platte” am Mittleren Ring; da logiert Sabine).

Bei Sabine findet Alois immer ein Platzerl. Obwohl er sonst nicht mehr bei ihr landen kann. Sabine ist neuerdings andersweitig vergeben.

Ernst.

Um sieben Uhr abends kommen Ernst und Sabine auf dem U-Bahn-Lüftungsschacht am Münchner Isarring zusammen. Sie haben ihre Wege in der Stadt abgeschlossen. Sabine hat sich aufs Containern spezialisiert – da schaut sie an den Feiertagen ganz schön in die Röhre. Ernst ist ein Meister der Jagd nach Flaschenpfand – der Erlös reicht locker für die Getränke einer fröhlichen Nacht, und zu Ostern ist die Stadt voll mit Dosen und leeren Pullen. Die Leute dürfen zwar nicht hinaus, wegen der Quarantäne, aber trotzdem kommen sie in Massen aus den Häusern und saufen beim “Spazierengehen” die Brauereien reich.

Das ist gut für die Leutl vom Lüftungsschacht.

Sabine und Ernst checken, ob die Schlafsäcke und die Besitztümer unter den Plastikplanen komplett sind. Alles paletti. Sie setzen sich aufs Gitter und genießen die warme Luft, die von unten kommt.

“Saublöd, dass es nachts noch so kalt wird”, sagt er. Sie nickt. Aber man kann es nicht ändern. Die beiden ziehen die Kapuzen in die Stirn und trinken.

Sabine und Ernst haben vor Kurzem drei Mitbewohner von der Platte gejagt. Die haben sich einfach nicht an ungeschriebene Regeln halten wollen. Sind abends ohne Beute aus der Stadt zurück gekommen – aber beim Saufen und beim Fressen waren sie die Ersten.

Sie haben sich auch am Gepäck von Sabine und Ernst bedient. Obwohl die immer die Planen über ihre Sachen decken, bevor sie los tippeln. Die Planen haben sie eigens bei einem Reifenhändler in Milbertshofen organisiert – die sind besonders haltbar, blick- und absolut wasserdicht. Eins-A-Folien sind das. Und die Anderen haben sie einfach runtergerissen und sich an den Sachen vom Ernst und der Sabine zu schaffen gemacht.

“Da hab’ ich sie naus gehaut”, sagt der Ernst. Musste sein. Weil: Wenn sich einer hier auf “Platte” nicht zu wehren weiß, dann geht er unter. Das hier draußen ist echt kein Spaß in der heutigen Zeit.

Ja, sagt Ernst, man kann das alles nicht mehr rückgängig machen. Die Gesellschaft kann mit ihm nichts mehr anfangen, er ist auf diesem Luftschacht gelandet, nichts zu ändern. Klar, oft denken die Sabine und er, es wäre schon super, abends in ein gemachtes Bett zu steigen, ein Dach über dem Kopf zu haben, sich nicht mit dem Nacht-Gefröstel herum schlagen zu müssen. Klar wäre es schön, nicht so arg zu stinken und noch alle Zähne zu haben.

“Aber Hauptsache”, sagt der Ernst und prostet dem Alois, der in einer gespenstisch leeren U-Bahn auf Besuch gekommen ist. “Aber Hauptsache, mir san gsund.”