DIE KRISE

ENDZEIT 12 Ernst ist ein zupackender Mensch. Einsfünfundachtzig groß, breite Schultern, dicke Arme. Der Alkohol hat ihn noch nicht klein gekriegt. Ernst ist viel in der Stadt unterwegs, tagsüber trinkt er nicht, erst abends gibt es Bier. Manchmal Schnaps, manchmal Wein. Manchmal ein paar Halbe zum Einschlafen, manchmal, bis er umfällt. Aber selbst wenn es ausartet, ist Ernst am nächsten Morgen wieder am Start.

Er behandelt Sabine ritterlich. Sie schaffen es sogar, ab und zu Sex zu haben. Ansonsten beschützt er seine Freundin. Sie braucht das. Zart ist sie, ihre Hände zittern leicht, einen trockenen Husten wird sie nicht mehr los. Sie ist mal eine schöne Frau gewesen, mit langen seidigen  dunklen Haaren und braunen Augen. Die Haare werden jetzt grau, in den Augen ist Traurigkeit. Sabine hat viel Angst. Vor den normalen Menschen und ihrer Verachtung. Vor den jungen Ausländern. Vor Männern, wenn sie betrunken sind. Vor den Polizisten. Vor dem Krank-Werden und dem Sterben. Jetzt, in diesen Tagen, wird Sabine schier irre vor Angst.

Gut, dass der Ernst sie beschützt.

Jetzt, wo sie Besuch vom Alois haben, ist es nicht so schlimm mit der Angst. Man unterhält sich, wie man das auch früher getan hat. Man redet von früher, und das ist  tröstlich.

Sabine war mal mit Alois zusammen. Sie hatten Spaß, aber verlassen konnte sie sich nicht auf Alois. Er war nicht der Typ, der sie vor ihrer Angst beschützen konnte. Es machte ihn hilflos, wenn sie zusammenbrach. Und wenn er hilflos war, soff er Schnaps. Und wenn er am Schnaps hing, kam er morgens nicht auf die Beine. Das war dann ein Teufelskreis, aus dem er nicht heraus kam, bis sie ihn ins Krankenhaus  brachten.

Passiert alle zwei Monate. In der Klinik kennt man den Alois. Hilft ihm wieder auf die Beine – er ist ein freundlicher, stiller Patient – und entlässt ihn mit einem netten „Bis zum nächsten Mal“.

Es ist besser geworden, seit Alois und Sabine nicht mehr zusammen sind. Sie gehen gut miteinander um. Ernst lässt Wein rumgehen, immer wenn er an der Reihe ist, brummt er als Trinkspruch „Auf die Hygienevorschriften!“, dann grinsen Sabine und Alois.

Der erzählt vom munteren Treiben im Olympiapark. „Die Leut‘ tun, als ob nix wär. Nur ein paar Neger haben verrückt gespielt.“

Naja, sagt der Ernst, für viele ändert sich doch eigentlich nix. Das waren schon immer arme Schweine. Nur gewusst haben sie es nicht. Ob vielleicht einer mal Musik machen kann?

Sabine dreht am Transistorradio. Ein Nachrichtensprecher erzählt etwas von der Ostansprache des Präsidenten, die man jetzt noch einmal senden werde. Die Stimme des Präsidenten – ruhig, friedlich, väterlich, ernst – ist zu hören. Der Ernst meint, die Musik könne warten. Erstmal soll der Präsident was sagen.

Es tut weh, auf den Besuch bei den Eltern zu verzichten. Großeltern zerreißt es das Herz, nicht wenigstens an Ostern die Enkel umarmen zu können. Und viel mehr noch ist anders in diesem Jahr. Kein buntes Gewimmel in Parks und Straßencafés. Für viele von Ihnen nicht die lang ersehnte Urlaubsreise. Für Gastwirte und Hoteliers kein sonniger Start in die Saison. Für die Gläubigen kein gemeinsames Gebet. Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen?

„Ha!“, meint der Alois. „Das hättet Ihr Euch auch nicht träumen lassen, gell? ,Bohrende Ungewissheit‘! So fühlt sich das an.“

Vielleicht haben wir zu lange geglaubt, dass wir unverwundbar sind, dass es immer nur schneller, höher, weiter geht. Das war ein Irrtum.

„Wisst Ihr, wie das heißt. Ich hab das in der Schule gelernt. Eine Fallhöhe ist das. Sowas kann uns nicht mehr passieren.“

Noch ist die Gefahr nicht gebannt. Nein, die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir alle, jeden Tag, in dieser Krise machen.

„Hört Ihr’s? Angst haben sie. Die haben so einen Schiss, dass es sie zerreißt.“

Wir stehen jetzt an einer Wegscheide. Entweder jeder für sich, Ellbogen raus, hamstern und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen? Oder Hilfsbereitschaft? Bleiben wir mit dem älteren Nachbarn, dem wir beim Einkauf geholfen haben, in Kontakt? Schenken wir der Kassiererin, dem Paketboten auch weiterhin die Wertschätzung, die sie verdienen?

„Die werden sich noch wundern! Glaubt Ihr, dass da eine Hilfsbereitschaft bleibt? Ein Schmarrn bleibt.“

Sabine und Ernst nicken. Sie suchen einen Musiksender.

Prost! Auf die Hygienvorschriften!

Dann fällt dem Ernst ein wichtiger Gedanke ein. Man müsse sich ja nun auf einiges gefasst machen.

Wie er das meine?

„Wenn die Krise vorbei ist, müssen wir auf unser Sach‘ schauen.“

Weil?

„Weil da eine Menge Neue kommen werden. Die, die die Krise nicht schaffen, hängen sich auf, sterben auf Intensiv – oder sie landen bei uns. Dann kann es eng werden.“