MARTL

„D 2017“*, Folge 40. 27. Oktober. Graues Land.

 

„Martl“.

Er hat es nicht gemocht, wenn sie ihn „Martl“ nannten. Aber wie soll sich ein junger Mann in der dörflichen Gemeinschaft  wehren gegen seinen Rufnamen? Also ließ er es geschehen und hörte auf „Martl“.

Sie waren Freunde. Der Martl und Hans Krohn, den sie „Hanse“ riefen.

Martl war rechter Verteidiger, Hanse Rechtsaußen mit einem Drang in die Mittelstürmer-Position. Martl, ein klobiges Mannsbild, höher als einsachtzig, machte seinen Gegenspielern keinen Spaß. Er mochte nicht der große Techniker sein, aber er stand im Weg. Martl hielt sich nicht mit Feinheiten auf, er mähte nieder, haute weg, schlug um, putzte aus.

Hanse wiederum konnte es nicht. „Der Ball ist Dein Feind“, sagte der Martl und lachte sich scheckig. Aber Hans Krohn wollte mitmachen. Er trainierte mehr als die Anderen. Rannte sich die Hacken wund. Er hetzte so übers Feld, dass die Gegner irgendwann erschöpft von ihm abließen. Und dann durfte er mitspielen. „Hanse, laff!“ Hans lauf! Der Martl brüllte es und schlug den Ball nach vorn. Hans Krohn jagte hinterdrein wie ein verblödeter Terrier – er war ja, bei allem Respekt, auch ein eher kleiner Mann -, oft erwischte er den Ball, trieb ihn in Richtung des gegnerischen Strafraums. Und manchmal konnte er nicht anders: Er schoss das Tor, irgendwie.

Sauber, Hanse. Der Martl nahm ihn dann stolz in die Arme. Der Martl stank immer ein bisschen nach Mann, der gerade gevögelt hat – und Hanse sah recht mickrig aus in der Umarmung.

Machte nichts. Nach dem Spiel duschten sie und fuhren in Martls Sportwagen ins Nachbardorf zum Tanztee. Der begann am Sonntagnachmittag um vier und endete für die Freunde in der Nacht zum Montagmorgen. Da umarmten sie sich auch. Sie kotzten, bevor sie ins Cabrio stiegen. Fuhren ins heimische Dorf, wurden nie erwischt. Gingen berauscht in die neue Woche – der Martl in seiner Fabrik, der Hanse im Höhere-Söhne-Gymnasium.

Am Freitag traf man sich in der Disco, am Sonntag war Fußball. Dann Tanztee.

Sie waren seltsame Freunde.

Außenseiter in dem Dorf, in dem jeder wusste, was der Nachbar tat. Hans Krohn lernte fürs Abitur und fotografierte alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Er konnte sogar Latein, hieß es – und wenn er besoffen war, schrieb er auf den Rechnungsblöcken der Bedienung Gedichte.

Der Martl – blitzgescheit, zynisch, ungeliebt – arbeitete in der Fabrik. Er sah zum Fürchten aus mit seinen eckigen Schultern und seiner von Akne verheerten Haut. Aber wenn er die Zähne blank machte und lachte, verfielen ihm die Mädchen. Also nahm er jede, die nicht bei drei… Nicht die aus dem Dorf, die mieden den Martl wie einen Paria. Aber die Touristinnen waren hin und weg. Er fickte sie, brachte sie in ihre Pension und fuhr weg zum Biertrinken.

Der Martl flog Drachen und fuhr ein Motorrad, das einen Heidenlärm machte. Er brach sich beim Sport die Arme und zerlegte die Maschine und sich an einem Felsen. Im Krankenhaus lag er im Streckverband und erklärte, wenn man ihm jetzt nicht bald eine brächte, die ihm einen runter holen würde, dann bekäme er wirklich schlechte Laune.

Martl und Hanse waren nicht gern gesehen. Nicht in der Schule und nicht in der Fabrik. In einigen Kneipen hatten sie Hausverbot, nur im Maxim“ durften sie sich alles erlauben, weil sie so lange Geld ausgaben, bis sie keins mehr hatten.

Im Abi-Jahr trieben sie es arg. Hatten eine Wette abgeschlossen: Wer bis nach den Sommerferien mehr Weiber flachlegen würde, bekäme einen Kasten Karg. Das war das beste Weißbier der Umgebung – klar, es ging da nicht ums Materielle. Doch der Verlierer würde sich seiner Lebtag‘ schämen müssen.

Sie legten sich mächtig ins Zeug. Hanse fensterlte sogar beim Häuserer-Bauern, wo eine fast 50-Jährige urlaubte. Martl meinte zwar, Scheintote würden nicht mitgezählt, aber das hatte er nicht nötig, er führte sowieso uneinholbar.

Bis zu diesem Abend auf dem Pürschling.

Ausgemacht hatten sie, dass an diesem Wochenende der Wettbewerb außer Kraft gesetzt sei. Der Fußballverein hatte spielfrei, Martl und Hans Krohn wollten klettern und saufen und dumm daher reden. Sie wollten unter sich bleiben. Kein Stress mit Weibern, einfach nur Spaß ohne Reue.

Also sagten sie sich auf der Hütte an, brachten am Freitag schon einen vorzeigbaren Rausch mit auf den Berg, setzten sich am Samstag gerade noch meisterbaren Gefahren im Fels aus und kamen glücklich und ausgelaugt zurück zu Hütte.

Es war der letzte Sonnenuntergang, den die Beiden begossen haben.

Aber wissen taten sie es nicht.

 

*“D2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.