JAGERHASS

„D 2017“*, Folge 38. 25. Oktober. Es regiert der Föhn.

 

Es nennt sich hier oben Feigenkopf, Hennenkopf, Brunnenkopf, Klammspitze. Es hat Auerhähne, und die Jäger haben zwischen Brunnenkopf und Pürschling – was mag das für eine Strecke sein? Naja, gutding fünf Kilometer auf dem Grat – an die hundert Stück Gams gezählt.

Die scheinen sich noch keine Sorgen wegen eines nächsten Winters zu machen. Sie stehen in den Bergflanken und weiden gemächlich die kargen Schrofen ab. Dohlen spielen sich an den Gipfelkreuzen mit dem Wind. Der Föhn zaust das Alpen-Leinkraut, die verdorrten Moospolster des Mannsschildes, die letzten Aufrechten unter den Schusternagerln. Sanft geht der Wind den Latschen an die Wäsche, heute ist es ein charmanter Föhn. Ein paar Meisen fühlen sich im Hochwald so wohl, dass sie mit dem Tirilieren gar nicht mehr aufhören mögen.

Hans Krohn – das tut er manchmal, wenn er allein ist und sich gut fühlt – spricht mit sich: „Was für ein schöner Morgen. Tanzt’s nur, Ihr Dohlen, bald kommt der Schnee, dann wird’s wild hier heroben.“

Er lacht vor sich hin.

Nein, er hat keinen Sparren locker. Er hat sich nur angewöhnt, große Schweigsamkeit durch Monologe wegzureden. Er war ja lang genug auf sich gestellt. Da hat er eben mit sich beredet, was anstand. Ist das schlimm? Doch wohl nicht, oder?

Eben.

Niemand ist an diesem Vormittag unterwegs, außer den Gemsen, dem Berg-Geflügel und Hans Krohn. Der Mann in seinem nagelneuen Outfit nimmt die Gipfel mit einer Behendigkeit, die er seit Jahren an sich vermisst hat.

„Ihr könnt fliegen, Ihr Dohlen. Aber ich bin beflügelt.“

Er hat einen Auftrag. Jemand will, dass er Arbeit abliefert. Ein ganzes Buch darf er fotografieren. Die Mark Brandenburg – helle Seiten und dunkle Ecken eines vergessenen Deutschland. Der Verleger hat gemeint, das sei ein wunderbares Thema, weil der Fontane bald rauf und runter gefeiert werde. Da solle er, Krohn, doch seinen Heimvorteil ausnutzen. „Nichts wie los! Knips das verdammte Brandenburg – und vergiss die braune Brut nicht.“

Krohn könnte immer noch juchzen. So wie es die Mannsbilder hier im Gäu tun, wenn es ihnen zu heiß wird unterm Gamsbart.

Aber er gehört nicht mehr hierher. Das Juchzen verbietet sich.

Es war einmal seine Heimat. Ist aber lang her. Nun hat er keine Gefühle mehr übrig – erstaunt erlebt sich Hans Krohn, wie er ohne Emotionen durch seine Vergangenheit steigt. Er hat nicht gezählt, wie oft er über diesen Grat geklettert ist. In sengender Sonne, im Gewitter, bei Schneetreiben, an belanglosen Tagen. Mit Freunden, mit Begleiterinnen. Stumm und plappernd. Niedergeschlagen, hochgestimmt, gar nicht irgendwie und irgendwer.

Er muss hier nicht auf seine Füße achten, sie finden den richtigen Tritt von allein, er hat rechts die Zugspitze und links die Felsköpfe über sich im Blick. Manchmal sieht er hinunter ins Lindertal und zum Schloss – und er fühlt sich sehr groß.

Gegen Mittag erreicht er den Pürschling. Die Wirtschaft ist offen. Drei Jäger mustern Krohn argwöhnisch – ein Wanderer zu dieser Jahreszeit ist verdächtig. Dann stecken sie wieder die Köpfe zusammen. Sie schimpfen auf die verreckten Mountain Biker, die sich einen Scheiß um die Jagd kümmern. Mittlerweile fahren die schon abends zum Pürschling hinauf. Mit ihren Stirnlampen und ihrem Getue machen sie einem das Wild ganz narrisch. Drauf brennen sollte man ihnen eins.

„Ja, und wennst einen anredest, kommt er Dir auch noch blöd. Ich hab‘ letzte Woche einen im Langen Tal abgepasst. ‚Sie‘, hab‘ ich gesagt, ,können’s nicht auf dem Weg bleiben, müssen Sie da die Abkürzung nehmen?‘ Ganz freundlich hab‘ ich es gesagt. Da ist der mir gleich gschnappig geworden. Ja, er muss die Abkürzung nehmen. Warum? Weil’s schneller geht. Und recht dreckig gelacht hat er.“

Grimmiges Schweigen. Dann kichert ein Kollege leise, bösartig, weibisch in sich hinein. Die beiden Anderen sehen ihn fragend an.

„Aber braucht’s net glauben, dass es allweil so geht. I bin – is aa no koan Monat her – unten am Gatter, wo de Roß steh’n. Da kimmt so a Minkana in seim Jeep daher. Ein sauteurer Jeep is des gwen. Hint‘ übern Forstweg is er auffi. ,Sie, do derfn’s fei ned fahrn‘, hab i gsagt. Freili derf er fahrn, hat er gmoant. Weil, er hod do a Jagdhüttn, deswegn derf er de Forststraß nutzn. Wahrscheinli hod er Recht ghabt. Er oiso: Gatter auf, eini mitm Jeep auf d‘ Roßalm. Fahrt zu seina Hüttn. Später bin i no amoi vorbei und hab gmoant, des is gfahrli, dass er sein Karrn über Nacht da steh losst. Do passiert scho nix, sagt er.“

Der Erzähler kichert wieder. Wie eine zahnlose Hex´ hört er sich an.

Der Münchner hat sich nämlich am nächsten Morgen krawuttisch ärgern müssen. Sein schöner Jeep – eigentlich war es kein Jeep, sondern ein für Outdoor aufgemotzer Luxus-SUV – war total im Arsch. Über Nacht haben es ihm die Rösser sauber besorgt. Spiegel abgerissen, Fronthaube verbeult, Fenster zerkratzt. Der ganze Dreck der Ammergauer auf dem schönen Münchner Lack.

Hehehe! Da lachen sie sich aber nun scheckig. Man sollte eben wissen, dass die gelangweilten Viecher im Herbst über alles herfallen, was ihnen vor die Hufe kommt. Die bespringen, wenn es sich anbietet, sogar einen unschuldigen Wagen aus der Stadt.

Hehehe!

Sie sind ungut, die drei Jäger aus dem Werdenfels. Hans Krohn lässt den Rest Kaffee stehen und macht, dass er nach draußen kommt. Hier hat er nichts zu suchen.

Vielleicht noch ein Abstecher auf den Teufelstättkopf, bevor er wieder ins Tal marschiert? Er war schon so lange nicht mehr da oben. Hans Krohn steigt in den Fußspuren steil nach oben zu den Felsen. Mit jedem Schritt wird er ängstlicher. Er weiß nicht, was es ist.

Etwas legt sich ihm aufs Gemüt. Der Föhn jagt über den Bergkamm, die Sonne scheint, die Dohlen spielen sich, und überall steht die Gams und hat es gut.

Aber Hans Krohn schnürt es die Brust ein.

 

*“D2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.