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„2017”*, Folge 37, 24. Oktober. Goldener Oktober

 

Kuchelberg heißt der erste Gipfel.

 

Hans Krohn beginnt, Spaß am Gehen zu bekommen. Stunden hat es gedauert. Er ist durchs Tal von Oberammergau nach Graswang gelatscht, da war es noch dunkel, der Magen stieß sauer auf. Nach der Ortschaft bog Krohn nach links ab und folgte einem trockenen Bachbett. Der Tag graute, doch es wurde nicht so recht hell – in den Bergen lagen Nebelbänke. Krohn wanderte an die Hänge heran, er arbeitete sich in den ersten Serpentinen nach oben. Mühsam war jeder Schritt, Hans schwitzte und fühlte sich kaltheiß.

Sau-Sauferei!

Nach drei Stunden war er im Nebel. Er sah nicht viel von dem schmalen Steig, die Steine und Wurzeln waren glitschig. Krohn machte keine Pause, aß einen Apfel, ohne stehen zu bleiben.

Es wurde heller. Es wurde licht.

Dann war der Nebel unter ihm.

Schnaufend hielt Krohn inne. Er sah sich um. Unter ihm die Wolkenwatte, ein runder weicher grauer Teppich. Über ihm die steilen Hänge hinauf zum Gipfel, die Serpentinen, die sich durch Latschen wanden und oben die felsigen Matten durchschnitten. Gegenüber die nördliche Kette der Ammergauer mit Pürschling und Brunnenkopf und Klammspitze.

Dorthin wollte er noch. Hans Krohn zog das verschwitzte Shirt aus, schlüpfte in ein trockenes Hemd. Den Anorak steckte er in den Rucksack, er würde ihn nicht brauchen.

 

Nun ist er auf dem Kuchelberg. Große Freude. Krohn hat eine breite Brust. Er setzt sich ans Kreuz und hat viel Zeit zum Essen und Trinken. Es ist warm und hell, die Haut kribbelt vor Wohlsein. Brot und Käse, Wasser. Zum Abschluss Schokolade. Man möchte den Kopf in die Sonne halten und gar nicht weiter gehen.

Seufzend rappelt er sich hoch. Er setzt nun auf dem Grat die Schritte bedacht und fest, er ist mit seinen Bewegungen im Reinen. Nach Stunden verlässt er die Felsen und wandert ins Tal. An der Straße entlang zurück nach Linderhof. In der Dunkelheit schnürt Hans Krohn – ein anderer Krohn als der der letzten Tage, ein Hans Krohn, ganz nach seinem Geschmack – durch den Schlosspark. Auf der großen Wiese stehen in der Dusternis Hirsche.

Krohn geht in den nächsten Wald. Über die Forststraße erreicht er einen Unterstand. Wie lang war er jetzt unterwegs? 13 Stunden? 14?

Egal. Er riecht nach Arbeit und ist dreckig bis unter die Haut. In der Nähe kommt Wasser vom Berg, Krohn wäscht sich ein wenig, rubbelt sich ab, zieht die letzte trockene Garnitur an. Er legt den Schlafsack (eben erst in München gekauft) zurecht, schmeißt den Kocher (auch neu) an. Öffnet die Raviolidose.

Hans Krohn isst. Es schmeckt schön und macht ihn jung. Er denkt an die Klettertouren von früher, an die Kumpels und die Mädchen, die sportlich und willig waren.

Er sucht im Transistorradio einen Sender mit klassischer Musik. Beethoven, späte Klaviermusik. Irre Töne in einer irren schwarzen Nacht.

Irgendwann schlüpft er in den Schlafsack, hat ein paar Minuten Furcht vor der Dunkelheit und den Geräuschen, an die er nicht mehr gewohnt ist.

Dann schläft er ein.

Sein neues Leben hat begonnen.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.