HEIMAT VERLIEREN

TANZ DER VIREN II, Folge 97

Nein, sagt Hatice, Heimweh habe sie nicht. Torsten bleibt stehen und sieht sie an. Ihre Hand hat er nicht losgelassen, er schaut nur. So, als ob er ihr nicht recht glaube.

Manchmal sehne sie sich danach, woanders zu sein, sagt sie

„Das sind so Augenblicke. Im Herbst denke ich an die Wälder, in denen wir Pilze gesammelt haben. Dann habe ich den Geruch im Kopf und das Gefühl, dass die Familie zusammen ist und alles ist gut. Oder ich denke ans Meer. Der Strand, zu dem wir im Urlaub immer gefahren sind. Mittags hat es Wassermelone gegeben, am Nachmittag ein Eis, wir haben uns mit unseren türkischen Freunden getroffen, es waren große Kinderpartys, die Omas und die Opas waren auch dabei. Aber das ist wohl kein richtiges Heimweh bei mir. Ich denke halt gerne dran, weil es immer schön war. Mir geht es gut hier, mir fehlt nichts. Und was ist mit Dir?“

Seit vier Jahren lebe ich hier in der Stadt – aber oft war ich noch nicht zuhause. So wie jetzt, meine ich.“

„Wie? Gefällt Dir München nicht.“

„Weiß ich nicht. Nee, eigentlich nicht.“

„Wie das?“

„Ich komme aus der Oberpfalz, sagt Dir das was?

„Klar, das ist im Osten, fast schon Tschechien.“

„So ungefähr. Ich liebe es dort. Ich mag die Provinz. Bei uns im Ort kennt jeder jeden – das ist gut.“

„Warum biste dann nach München?“

„Karriere. Ich dachte, ich kann hier was reißen. Beruflich läuft es auch einigermaßen. Aber ich fühle mich noch immer fremd. Bin auf Arbeit, mehr ist nicht. Früher habe ich mich manchmal mit Kollegen im Biergarten getroffen oder ich war im Kino. Im Fitnessclub komme ich mir vor wie ein Zombie, da redet ja keiner was. Also hocke ich nach dem Dienst in meiner Wohnung, die ist zu klein und zu teuer. Und jede zweite Woche fahre ich nach Hause. Aber das macht auch keinen Spaß.“

Hatice fragt nicht nach. Sie wartet, bis Torsten weiter redet. Es ist ein langes Schweigen.

„Die Mutter ist krank. Sie vergisst die Sachen. Die Leute erkennt sie, sie macht die Küche und putzt das Haus. Aber schwer tut sie sich. Auto kann sie nicht mehr fahren, zum Einkaufen braucht sie eine Begleitung. Und es wird schlimmer. Sie weiß, dass sie krank ist und dass man nichts machen kann. Das macht sie zornig. Meine Mutter war früher immer froh und hat über den kleinsten Scheiß gelacht. Jetzt sitzt sie stundenlang auf der Terrasse und will mit niemandem reden. Der Vater weiß nicht, was er machen soll. Manchmal, wenn er sie ins Bett gebracht hat, trinkt er so lange Schnaps, bis er nicht mehr reden kann. Meine Geschwister wohnen in der Nähe, aber sie kommen auch nur alle paar Tage. Ich kann sie verstehen, das ist nicht gut auszuhalten.“

„Was war denn jetzt beim Lockdown.“

„Schlimm war’s. Die Mama und der Papa sind früh geimpft worden – was heißt da, früh? Fast ein Jahr Quarantäne. Wenn ich heim bin, habe ich gesagt, wir pfeifen auf die Wissenschaftler, wir umarmen uns, aber der Papa war dagegen. Wir sind mit den Masken durchs Haus und man hat sich das Essen vor die Tür gestellt. Es war wie in einem schlechten Film. Aber jetzt soll es ja besser werden.“

Ja, sagt Hatice und schaut Torsten an. Schöne klare Augen hat er.

„Riechst es auch“, fragt sie.

Er schnuppert. Ja, er riecht es auch.

Da ist das Strenge vom Bärlauch in der Luft. Das Satte vom nass geregneten Gras. Das Harzige von den Kiefern und den Fichten. Auspuffgase, die vom Frankfurter Ring herüber kriechen.

Und da ist dieser himmlische Duft aus der guten Zeit.

Es riecht nach Steckerlfisch. „Beim „Aumeister“ gibt es Steckerlfisch. Saibling, Forelle. Salz, Oregano, Petersilie, Rosmarin, Dill, Schnittlauch, Thymian, Zwiebel, Rohrzucker, Majoran, Wacholderbeeren, Knoblauchgranulat, Öl, Salbei, Chillies, Pul Biber, Citronensäure.

Alles geröstet.

Steckerlfisch!

Vielleicht gibt es ein Bier auch.

Vielleicht gibt es das alles.

„Gehen wir und kaufen uns einen Fisch?“, fragt sie.   

Das klingt nach Verführung.

Nein, antwortet Torsten, er weiß da was Besseres. In 20 Minuten sind sie da. Höchstens eine halbe Stunde.

Gut, sagt Hatice. Wenn er meint.

Sie marschieren stadteinwärts. Flott. Glücklich.

Nach einer halben Stunde sind sie da.

© BILDKUNST JOHANNES TAUBERT