GUTE ALTE ZEIT

berlin, 17. januar 2015

Der Stadthistoriker und Autor Johannes Prittwitz hat sich als Zirkusdirektor kostümiert und steht gertenschlank nebst Longierpeitsche am Rednerpult des Kleistsaals in der Urania. Er hebt zum Vortrag über die Zirkusstadt Berlin an. Da rutscht ihm der vermaledeite falsche Schnauzer von der Oberlippe. Niemanden im Auditorium stört’s. Man ist auf dem Trip in einer bessere alte Zeit – da lässt man sich von einem störrischen Moustache doch nicht irre machen.

Auch die Dame in der letzten Reihe nimmt das Malheur des Referenten gelassen. Sie braucht keine Show, sie ist wegen der Erinnerungen da.

Die Augen öffnet sie nur, wenn vorne das Bild auf der großen Leinwand wechselt.

Dann betrachtet sie die alte Fotografie, den Stich, die Radierung oder das Zille-Aquarell lächelnd und hat ganz viele Déjà-vus.

Die Dame sitzt regelmäßig in der letzten Reihe. Nachmittags wohlgemerkt, wenn die Vorträge um halb vier beginnen. Dann schafft sie es pünktlich zum Abendessen wieder zurück ins Stift. Manchmal kommt sie in Begleitung, doch oft sind die Freundinnen zu müde, sich auf den weiten Weg von der Charlottenburger Gervinusstraße in den Kleistsaal zu machen. Dann ist sie eben allein unterwegs. Zockelt nach dem Mittagessen los, gönnt sich in einem Café neben der Urania einen Aufgeschäumten und ein Stück Torte.

Danach hat sie einen kleinen Plausch mit der tschechischen Garderobière. Steigt mit festem Schritt in den ersten Stock, lässt sich in der letzten Reihe nieder und freut sich, wenn die grellen Lichter ausgehen.

 

P1010068(1)

Als der Schnee noch weißer war – und im Zirkus die Post abging… Herr Prittwitz entführt uns.

 

 

Diesmal also entführt sie Herr Prittwitz. Sie mag ihn, weil er so schön schnell reden kann und weil er wohl eine humanistische Bildung hat. Wenn er etwas Lateinisches oder Griechisches einflicht, nickt sie befriedigt, denn sie hat ihre Klassiker immer noch klasse intus.

Heute also “Berlin und seine circus” (“Ich sage nicht ,Zirkusse’, erklärt der Herr Prittwitz, sondern ,circus’, denn das ist der Plural im Lateinischen – circus, circus, Sie verstehen”). Der Redner erzählt vom wilden Ernst Renz, der rasant reiten, toll turnen und hervorragend rechnen konnte. Der in Berlin als Zirkus-Macher ein Vermögen verdiente und als Star der Stadt einen großen Abgang hatte. Bei Renz’ Beerdigung schien seinetwegen halb Berlin auf den Beinen

Ehrengrab. Das muss einer erstmal schaffen. Für einen Hallodri wie den Herrn Zirkusdirektor war Berlin gerade das richtige Pflaster.

Die Dame ist vergnügt.

Amüsiert nimmt sie zur Kenntnis, dass Ernst Renz das war, was man heute einen großen Netzwerker nennen würde. Er hat den Kumpel Litfass zu Ruhm und Geld gebracht (im Gegenzug hat er aus der Littfass-Werbung ordentlich Nutzen gezogen). Er hat sich mit höfischen und weltlichen Entscheidern prächtig arrangiert und so die besten Grundstücke für seine “circus” unter den Nagel reißen können.

Man liegt nicht falsch, wenn man sagt: Bei Renz spielte die Musik.

Das erzählt auch der eloquente Herr Prittwitz. Man hat ihm zwar für seinen Vortrag kein Getränk neben das Mikro gestellt, aber elegant überspielt es der Mann am Pult. Er redet ohn’ Unterlass – und ohne dass ihm die Spucke weg bleibt.

 

P1010070

Schau einer an! Da waren die Herren noch wahre Reiter!

 

 

Halt! Zweimal spielt er Tonmaterial ein. Zum Einen die “Erinnerungen an Circus Renz”, von Gustav Peter für Xylophon und Orchesterbegleitung komponiert.

Da lächelt die Dame verschmitzt wie ein junges Mädchen auf Burschenfang.

Und dann lässt Herr Prittwitz noch “Die Wacht am Rhein” auf die Zuhörer los. Das hat man bei Renz gespielt, also kann man es in der Urania doch mit Fug aufleben lassen. So scheppert’s und knödelt’s im Kleistsaal:

So führe uns, du bist bewährt;

In Gottvertrau’n greif’ zu dem Schwert,

Hoch Wilhelm! Nieder mit der Brut!

Und tilg’ die Schmach mit Feindesblut!

Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein

Fest steht und treu die Wacht am Rhein!

Die alte Dame hat die Augen geschlossen. Leise singt sie mit. Wort für Wort. Mit innigem Herzen. Ein frohes Gesicht hat sie, die einsame Lady in der letzten Reihe.