GROSSE FLUCHTEN

„2017”*, Folge 23, 10. Oktober. Heiter. Wirklich?

 

Zurück in Berlin. Es ist eine neue Stadt für Eddy.

 

In Schöneberg schieben Mütter Kinderkarren durch den Volkspark, alte Männer spielen Schach. Am Kurfürstendamm wird es abends licht, und die Menschen haben die Wahl zwischen Espresso, Cappucino oder einem Kännchen. Die Kollegen sind ehrgeizig und wollen noch mehr Geld verdienen. „Wie war’s in Leipzig?“, fragen sie, und nachdem er erzählt hat, haut Charly seinem Kumpel auf die Schultern und brüllt: „Let’s go East!“ Er habe da Kontakte aufgetan. Man werde jetzt Fahrten ins andere Deutschland machen. Bringe echt viel Kohle. Was denn das für Fahrten seien, will Eddy wissen. Charly kann es nicht genau sagen, so ein Technik-Scheiß, große Lieferungen, dicker Auftrag mit Aussicht auf mehr.

Okay. Eddy ist’s recht. „Ich kümmer‘ mich drum.“

Recht so. Charly freut sich wie Bolle.

 

Neue Stadt. Bislang war für Eddy an der Mauer Ende Gelände. Jetzt lernt er das andere Berlin kennen.

Interessant. Grau am Abend. Braunkohle und Zweitakt. In den Kantinen dicke Gerüche. Kaffe und Gastmahl des Meeres. Jeans aus einem anderen Stoff.

Straßen wie Schluchten. Häuser wie Ruinen. Müde Frauen, die nach der Arbeit für irgendwas Schlange stehen. Dumpfes Biertrinken in verräucherten Pinten. Kinder wie im Westen, Erwachsene mit fahlen Gesichtern. Kurze Röcke, neugierige Mädchen, die am Alex Eis lutschen.

Mandy, die sich für ihn hübsch macht.

Berlin: die Stadt, die kaum Platz zum Vögeln hat.

Aber Mandy ist erfinderisch. Sie hat Freunde, die tagsüber ihre Wohnung zur Verfügung stellen. Oft besucht Eddy sie in Lichtenberg – Zweiraumwohnung, farbenfroh, VEB-Möbel, neue Küche, Zentralheizung, Aufzug. Eddy kommt am Vormittag, da sind die Nachbarn auf Arbeit. Wenn er die Wohnung gegen zehn Uhr verlässt, begegnet er vielleicht mal jemandem, der den Hund abends nochmal ausführt oder vom Bummeln im Kiez nach Hause kommt. Kann auch sein, dass im Gang Jugendliche knutschen.

Alles nicht schlimm.

Aber Mandy sagt, man soll sich nicht täuschen. „Sie sind überall. Wir müssen aufpassen. Je weniger wir auffallen, desto besser.“

Naja. Eddy tut, was sie sagt. Sie kennt sich schließlich aus in ihrer DDR. Eigentlich macht er sich keine großen Gedanken über die Stasi.

 

Er macht sich überhaupt keine Gedanken. In der Firma freuen sich die Kollegen, dass er so frisch ist, Mit neuen Ideen, vor allem fürs Ost-Business.

Der Umgang mit Viola ist ungebrochen. Und das Zusammenleben mit der Frau lässt sich für alle aushalten.

Die Eheleute sind froh, wenn sie ihrer Wege gehen können. Urlaub macht Eddy mit der Tochter, nach zwei Wochen reist er zurück nach Berlin – dann übernimmt die Frau. Das Mädchen hat eine unschwere Kindheit.

Die Eltern zanken nicht, sie gehen gar nicht mehr miteinander um. Das ist nicht arg für ein Kind. Es wird liebevoll behandelt, Viola bekommt sogar einen kleinen Hund, die Familie ist für sie intakt.

Eddy hat eine Bleibe und eine Waschmaschine in West-Berlin. Er geht zum Arbeiten. Er hat sein Fitnessstudio, einmal in der Woche trifft er sich mit Charly beim Squash.

Und dann das Highlight der Woche.

Donnerstag (er könnte nicht sagen, warum es der Donnerstag ist. Mandy hat gemeint, da würde „es“ – was auch immer „es“ ist – am wenigsten auffallen).

Donnerstag fährt er in den Osten.

Er ist ohnehin die meiste Zeit für die Firma unterwegs und spricht das sehr lose mit Charly ab – also macht sich niemand Gedanken darüber, wohin der Eddy jeden Donnerstag verschwindet und warum das Sekretariat dann nur um kurz vor zehn von ihm ein belangloses Telefonat bekommt.

Von zehn Uhr an ist er nämlich in seinem anderen schönen Leben.

Er passiert die Grenzwächter an der Friedrichstraße. Wenn das Wetter danach ist, geht er zu Fuß zum Alex. Er mag die dicke Luft. Es riecht nach Gleich-ist-Liebemachen.

Im Sommer trifft er sich in Mitte mit Mandy zum Bummeln.

Am liebsten aber fährt er gleich weiter. Vom Alex mit der Linie E zum Bahnhof Lichtenberg. Rauf auf die Frankfurter Allee. Der dritte Wohnkasten stadteinwärts auf der rechten Seite – das ist ihrer.

Er klingelt – zweimal kurz, zweimal lang -, es summt, er drückt die Tür auf. Nimmt die Treppe, nicht den Aufzug. Vierter Stock. Leerer Gang. Dritte Wohnung links. Die Tür ist angelehnt.

Er ist drin.

Und wie!

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.