EWIG? NEIN!

sommer zwanzichfuffzehn XXXXII

Hans Krohn hatte einen Kaffee gebrüht, nun schaltete er das kleine Radiogerät ein. Sieben-Uhr-Nachrichten. Flüchtlinge. Ein neunmalkluger österreichischer Außenminister, der Unfug redete. Autos auf der großen Ausstellung, die ohne einen Menschen fahren. Mainz gewinnt gegen Hoffenheim.

Dettmar Cramer ist gestorben.

Erschrecken. Dieser kleine zähe Mann war tot. Das wollte nicht in Krohns Kopf. Für ihn war Cramer – obwohl er in den letzten Jahren immer weniger geworden war – ein Ewiger gewesen. Der konnt gar nicht sterben.

Der Kaffee wurde kalt. Krohn blickte auf den Kanal. Jetzt wollte er nicht aufs Wasser. Er faltetete die Karte auseinander, orintierte sich.

Bis zum nächsten Supermarkt musste er sieben Kilometer auf der Landstraße gehen. Okay, dann mal los.

Er kaufte genügend Wein und etwas zum Essen. Kehrte zurück an den Steg. Hans Krohn richtete sich für einen verlorenen Tag ein.

Vor gut 15 Jahren wollte Dettmar Cramer es einmal versuchen: sein Leben und seine Erfahrungen, sein Wissen über den Fußball und die jungen Kick-Millionarios in einem Buch unterzubringen. Er gab sich wirklich Mühe. 30 Kassetten à 90 Minuten waren schon abgetippt (und es gab kaum langweilige Passagen), die ersten 120 Seiten Manuskript existierten bereits.

Da erklärte Cramer: „Nee, das machen wir doch nicht.“

Der Verleger und Hans Krohn saßen ihm gegenüber in seinem Arbeitszimmer unterm Dach des mit Fußball voll gestopften gemütlichen Hauses und versuchten, den „Fußball-Professor“ umzustimmen. Er wisse soviel wie kaum ein Anderer über den Sport. Er habe ein kunterbunt-spannendes Leben, er erzähle Geschichten aus tausenduneinen Nächten und fünf Kontinenten. Und das mit großer Seriosität und Aufrichtigkeit.

„Nee, das machen wir nicht.“

Der Verleger war nicht amüsiert. Der verhinderte Autor seinerseits hatte Herrn Cramer so schätzen gelernt, dass man in Kontakt blieb.

Wenn es winters aus dem Telefon schnarrte, es habe wieder „saumäßig“ geschneit in Reit im Winkl, und er, der kleine Herr Cramer sei mit seinen 79, 81 oder so schon zweimal draußen beim Schneeschippen gewesen, dann war das eine gute Nachricht:

Er war immer noch Bemeisterer seines zähen Körpers.

Seit ein paar Jahren ließ er den Schnee weg machen.

Aber Cramers Kopf, der arbeitete immer noch wie eine Schweizeruhr. Besonders, wenn es um Fußball geht. Vor Weihnachten 2014 sagte er: „Ist ja schön, dass wir noch mal Weltmeister geworden sind, und ich habe es erleben dürfen. Aber ich sagen Ihnen eins: Die Bayern holen in diesder Saison das Triple nicht. Der Guardiola kann’s – aber nicht in dieser Saison.“

Zu dieser Zeit meinte jeder, das Triple sei nur noch Formsache.

Ein halbes Jahr drauf sind die Bayern dann vorbei geschrammt.

Wieder mal hatte der „Professor“ Recht behalten. Ja, im Fußball kennt er sich aus.

In besagtem Gespräch wurde Dettmar Cramer auch einmal kurz sentimental (was sonst nicht so seine Sache ist). „Die Bayern und der DFB – das waren meine großen Lieben. Und das waren auch meine großen enttäuschten Lieben, ein bisschen jedenfalls.“

Zu Bayern kam Cramer sozusagen auf dem Umweg über den Deutschen Fußball Bund. Geboren in Dortmund, Spieler bei Viktoria Dortmund und Germania Wiesbaden. Bei einem Jugendlehrgang 1941 lernt Cramer er im Alter von 16 Jahren Sepp Herberger kennen. Der prägt ihn. Der Fallschirmspringer Cramer überlebt den Weltkrieg, schlägt sich danach als Spielertrainer und Trainer durch. Teutonia Lippstadt, VfL Geseke, FC Paderborn, TuS Eving-Lindenhorst. Später Chefcoach des Westdeutschen Fußball Verbandes.

Er ist der Gescheiteste des DFB. Aber nicht der Smarteste. Nicht er wird Nachfolger von Bundestrainer Sepp Herberger, sondern Helmut Schön, der den Funktionären mehr zu sagt.

Bis 1974 arbeitet Cramer für den Weltverband Fifa als Instrukteur und Trainer in rund 70 Ländern, ehe er für wenige Monate US-Nationalcoach wird – und dann…

Man schreibt 1975, und der FC Bayern will den klügsten Ausbilder des Globus haben. Also wird Cramer an die Isar geholt. Mit den Münchnern gewinnt er in der Beckenbauer-Ära zweimal den Europapokal der Landesmeister und einmal den Weltpokal. Deutscher Meister wird er nicht.

Bei Cramers 80. Geburtstag saß im „Seehaus“ auch der mittlerweile grau gewordene Sepp Maier am Ehrentisch und erinnerte sich daran, wie es damals war mit Herrn Cramer:

„Er war ein Perfektionist. Er wusste alles über Taktik, aber er wollte auch wissen und analysieren, wie einzelne Spielsituationen zustande kommen. Und er hat alles über den Gegner in Erfahrung gebracht, und wenn er dafür vorab nach Georgien oder sonst wo hinfahren musste. Er hat das alles genau aufzeichnen lassen und uns auf Flipcharts gezeigt. So mussten wir das über Stunden studieren.“

Sepp, sagte ein Mitspieler von damals, der hat bei uns ganz neue Seiten aufgezogen. Dabei hatte man doch gedacht mit dem Lattek und dem Zebec und dem Cajkowski hätte man schon einiges an Trainertypen durch.

Maier schmunzelte: „Nein. Der Herr Cramer war einzigartig. Er brauchte nichts zu übernehmen. Wir haben den Mann einfach nur respektieren müssen. Ich habe ihn zwar als „laufenden Meter“ tituliert, aber da hat er nicht mal reagiert. Er hat eine außergewöhnliche Lebensgeschichte gehabt. War ein Kind des Krieges, dann hat er in so vielen Ländern gearbeitet und sich wirklich überall zurechtgefunden. Er ist ein Weltmann. Und ja, er konnte damals sogar Spanisch – zumindest sind mir die Spielersitzungen so vorgekommen.“

Da hat dann Herr Cramer geschmunzelt. Er war gern ein Menschen-Führer und –Verführer. Er war von sich selbst überzeugt und ließ alle spüren, dass er ihnen im Denken voraus war. Einmal führte er einen jungen Stürmer in ein wichtiges Spiel. Karl-Heinz Rummenigge hieß der Bursch‘, er war fürchterlich nervös, er machte sich schier in die Hosen. Da flößte ihm der kleine Coach zwei Stamperl Schnaps ein. Rummenigge bekam rote Backen und einen großen Mut. Er spielte prächtig.

„Ich will immer gewinnen“, sagte Dettmar Cramer bei einem von Krohns Besuchen.

„Wovor haben Sie Angst?“

„Vor nichts. Ich ärgere mich, dass ich bald sterben muss. Das würde ich gerne auslassen.“

Jetzt war er tot. Auf dem Kanal und im Oderbruch ging das Leben weiter. Krohn mochte es nicht fassen.