DAS PRALLE LEBEN

berlin, 19. februar 2015

Arno Orzessek bringt es im “Deutschlandfunk” auf den Punkt: “Keine Frage, der Alexanderplatz ist ein auffallend häss­li­cher Abszess im Berliner Stadtkörper.” Der Radio-Mann kann die Location nicht ausstehen. Kalt, schmuddelig, unpersönlich. Genau dorthin musste sich Orzessek nun im Auftrag des Kulturressorts verfügen. Er sah sich um, es war wie immer – kalt, schmuddelig, unpersönlich – und staunte: Zum ersten Mal fühlte er sich am Alex wohl. Das lag an den Leichen.

“Körper-Welten” ist der Titel der Ausstellung, die eröffnet wurde. Es kamen ein paar Menschen mit Kameras, Mikros und Blöcken, es kamen der “Körper-Welten”-Erfinder Gunther von Hagens mit Frau, und ein paar Besucher verirrten sich auch zum eher stillen Empfang vor den Leichen-Sälen.

 

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Angekommen: Genau an diesen Platz wollte der Plastinator Gunther von Hagens mit seinem Leichen-Museum.

 

 

Gunther von Hagens, von einer unerbittlichen Parkinson’schen Krankheit gezeichnet, weinte kurz, seine Frau war kämpferisch – und die Besucher sagten Sätze wie “Ich bin begeistert, ich kann diese Ausstellung nur empfehlen”, “Das ist keine Schau über den Tod, sondern eine Liebeserklärung ans Leben” oder “Wir von der Polizeigewerkschaft begrüßen diese Ausstellung. Hier können unsere Beamten an Ort und Stelle einen wunderbaren Anschauungsunterricht nehmen”.

Abends demonstierte eine halbe Hundertschaft gläubiger Menschen, angeführt von hauptberuflichen Seelsorgern. Man zeigte sich empört über diesen Plastinator-Beelzebub, der angeblich mit Verstorbenen Schindluder treibt.

Für sie ist der ehemalige Hilfspfleger Gunther von Hagen (Geburtsname: Gunther Gerhard Liebchen) die Verkörperung des Bösen. Die “Frankfurter Rundschau” hat den Anatom und Unternehmer mit den massiven Angriffen konfrontiert, denen er seit Jahrzehnten ausgesetzt ist:

Ihnen wurde Leichenfledderei vorgeworfen, Voyeurismus unter dem Vorwand wissenschaftlicher Aufklärung. Pietät werde Schaueffekten oder allenfalls einem zweifelhaften didaktischen Nutzen geopfert. Welcher Vorwurf hat Sie am meisten getroffen?

Hagen:Keiner dieser Vorwürfe hat mich in irgendeiner Form betroffen gemacht, nicht mal geärgert. Denn sie sind allesamt hanebüchen. Leichenfledderei ist nach lexikalischer Definition Diebstahl einer Leiche, also fremden Eigentums. Eine gewisse Portion Voyeurismus aber ist jeder Betrachtung anatomischer Präparate eigen. Schon allein, weil sie normalerweise nicht zugänglich sind. Ich freue mich über jegliche anatomische Schaueffekte, denn sie dienen der visuellen Erinnerung und erhöhen dadurch ihren didaktischen Wert. Ich finde, ein gewisser Erlebnishunger dient der Motivation des Besuchers.”

 

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Mitten im Leben: Die Toten der “Körper-Welten” haben als Nachbarn den Betreiber einer angesagten Fitness-Kette.

 

 

Der Erlebnishunger wird gestillt, ohne Frage. Das Museum zu Füßen des Alex muss nicht einmal intensiv beworben werden. Eher zurückhaltend wirkt der Schriftzug, der in die “Körper-Welten” lädt. Litfass-Werbung? Kaum. Wandhohe Plakate? Warum denn? Zu Hagens‘ Leichen finden die Körper-Gucker von allein

500 Besucher täglich, so die Kalkulation, sind genug, um die neue Attraktion zum größten Privatmuseum Berlins zu machen. Schon am ersten Tag wurde der Schnitt locker erreicht. Es kamen und staunten mehr als 600 Menschen.

Ihnen erging es wie dem Reporter des “Deutschlandfunk”. Arno Orzessek schließt seinen Bericht aus einem Totenhaus mit der Erkenntnis: “Für freiere Geister gibt’s wenig zu tadeln. Natürlich handelt es sich bei den Plastinaten um eine starke Äst­hetisierung des Inneren der menschlichen Gestalt, die ansonsten allenfalls äu­ßer­lich als ästhetisch wertvoll gilt.  Aber umso fester steht: Auf dem hässlichen Alexanderplatz gehören Gunther von Hagens‘ ver­blüf­fen­de Plastinate zum Schönsten überhaupt.”

Das könnte ein langes fröhliches Leben für die “Körper-Welten” werden.