DAS GERÜCHT

berlin, 28. januar 2016

Die erste Statusmeldung landet am 27. Januar um 5.16 Uhr auf Facebook: Ein Flüchtling sei in Berlin aufgrund der Kälte und der langen Wartezeiten vor dem Amt verstorben. Die Autorin erklärt, sie beziehe sich da auf eine SMS, die ihr der Ehrenamtliche Dirk V. habe zukommen lassen.

Es ist ein ausführlicher, abenteuerlicher Bericht über etwas, was man lange schon hat kommen sehen. Der Flüchtling kommt nach langer Odyssee in Berlin an, ausgezehrt, halb erfroren und schon krank. Aber niemand schafft ihn in die Klinik – er muss sich einreihen in die Schlangen am Aufnahmeposten „Lageso“ – und als er endlich von einem Ehrenamtlichen in Obhut genommen wird, ist es zu spät.

 

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“Nun scheint ein weiterer Tiefpunkt erreicht worden zu sein. Es soll ein junger Syrer gestorben sein.”

 

Es heißt auf Facebook auch:

„LEUTE!!! ICH – BRAUCHE – DIRK!!!!!!! Wenn Ihr meinen Post sorgfältig lest, und dazu möchte ich jeden und jede einladen, dann stellt Ihr fest, dass ich 1. Dirk hundertprozentig vertraue, 2. Den Chatverlauf mit ihm per strg c + v hier wiedergebe, 3. ALLE INFORMATIONEN, DIE MIR ZU DEM GESCHEHEN VORLIEGEN, IN ECHTZEIT DIESES CHATS empfangen habe – zusätzlich ausschließlich noch aus dem Kontakt mit Khaled, der mehrfach versucht hat, Dirk telefonisch zu erreichen, um seine Übersetzerfähigkeiten einzubringen. Dirk hat ihn weggedrückt und direkt danach dazu geschrieben, er ist in der Klinik bzw. er kann gerade nicht telefonieren.“

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“Die Berliner Bürgerinitiative ,Moabit hilft’ kritisierte die Zustände am ,Lageso’ erneut sehr scharf.”

Später findet der besorgte Facebooker folgenden Eintrag:

„So. Jetzt ist es geschehen. Soeben ist ein 24-jähriger Syrer, der tagelang am Lageso bei Minusgraden im Schneematsch angestanden hat, nach Fieber, Schüttelfrost, dann Herzstillstand im Krankenwagen, dann in der Notaufnahme – VERSTORBEN.

Wer übernimmt hier Verantwortung? Wer stellt sich der Schuld, die die versagende Verwaltung oder der politische Wille – wer weiß noch, was hier vor sich geht? – jetzt auf sich geladen haben?

Wie wollt Ihr damit jetzt umgehen? Weiter verschieben, vertuschen, schönreden? Reagieren? Egal, was Ihr tut: Dieses Opfer eines Menschenlebens hätte verhindert werden müssen.
Wir haben es alle kommen sehen. Und nicht seit zwei Tagen. Seit einem halben Jahr.

Jetzt ist es zu spät. Er ist tot.“

„Bild“. „Zeit“. Die Berliner Reporter-Spürhunde. RBB. Das Erste, das Zweite, die Privaten, die Japaner und Italiener und Russen.

Alle stürzen sich drauf.

 

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“Das war so, dass er ihn vom Gelände aus mit nach Hause genommen hat. Doch sein Zustand verschlechterte sich dermaßen, dass er einen Rettungswagen gerufen hat – und auf dem Weg ins Krankenhaus hat der junge Mann schon einen Herzstillstand gehabt und ist dann im Krankenhaus verstorben.”

 

Das „Lageso“ wird zum Wallfahrtsort für einen Toten.

Oppositionspolitiker und politische Nullen fordern die Absetzung der „Verantwortlichen“. Die Polizei, die Sanis, das Berliner Klinik-Kollektiv kriegen ihr Fett weg. Einwände zählen erstmal nicht.

Erstmal ist es eine geile Geschichte.

Die nur einen Haken hat. Dirk V., der einzige Zeuge, ist abgetaucht, einen Toten treiben die Reporter nicht auf, nicht mal einen halb Erfrorenen.

Abends um 22.07 Uhr muss auch das Facebook nach Einsichtnahme des Polizeiberichts vermelden:

„Der Mann hat erklärt, er habe sich die Geschichte ausgedacht. Es sei in diesem Zusammenhang niemand gestorben.” 

Dirk V. wird sich später selbst mit der interessierten Öffentlichkeit vernetzen.

„Seit einigen Wochen“, schreibt er, „merke ich zunehmend, dass mich mein ehrenamtliches Engagement mehr und mehr an die Grenzen der psychischen und auch körperlichen Belastung bringt. Mehrfach wollte ich mich zurück ziehen, habe es aber nicht geschafft. Gestern Nacht kam ich von einer Feier mit syrischen Freunden und hatte ziemlich viel Alkohol getrunken. Zu viel!

Ich weiß, dass ich viele damit sehr verletzt habe. Ich wollte wachrütteln, etwas verändern und habe dabei in einer Mischung aus Betrunkenheit und nervlichem Zusammenbruch ein völlig falsches Mittel gewählt. Anders kann ich mein Handeln nicht erklären.“

Na gut, Schwamm drüber.

Die Eiferer des Vortags lassen nun ihrer Wut über den „Einzeltäter“ Lauf. Als ob sie nicht dabei gewesen wären, als am Vortag eine Falschmeldung die rasende Runde gemacht hat.

 

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“Eine direkte Folge der Unterversorgung der Asylanten kann auch der Tod des jungen Mannes gewesen sein.” Alle Zitate sind aus dem Filmbeitrag des Portals von zeit-online, der auch am Tag nach der Falschmeldung weiter im Netz zu finden ist.

 

In Wien betreiben Andre Wolf und Tom Wannenmacher auf mimikama.at eine vielbesuchte Internet-Seite. Sie gehen den Gerüchten, Halbwahrheiten und Lügen im worldwide web auf den Grund. Was ist zum Beispiel dran, dass ein Flüchtling im Landkreis Rostock 1004,50 Euro monatlich bar auf die Hand bekommt? Müssen Wiener Sozialbau-Mieter bei der Zubereitung von Schweinefleisch künftig die Fenster geschlossen halten? Ist ein Mädchen gestorben, weil es an einem Handy­ladekabel gelutscht hat? Sind hunderte Senioren eines Altersheims in Kreuzau-Drove zwecks Unterbringung von 300 Flüchtlingen auf die Straße gesetzt worden?

Oder eben: Ist ein 24-jähriger Syrer beim Schlangestehen um Asyl in Berlin jämmerlich krepiert?

Die Wahrheit, erklären die mimikama-Macher, ist in fast allen Fällen schnell gefunden. Aber es scheint, mancher mag die Wahrheit gar nicht hören.

„Manche Falschmeldungen sind das Resultat missverstandener Zusammenhänge“, meint Wolf, „aber gerade bei Flüchtlingsthemen steckt tendenziell Bösartigkeit dahinter.“

Oder zumindest Dummheit.