DAMALS, I

sommer zwanzichfuffzehn XXV
Wenn  sie von der Arbeit kam, liebten sie sich. Bevor sie zur Arbeit ging, verwickelten sie sich. Wenn sie müde vom Lieben waren, schliefen sie.
Oder sie redeten.
Sabrina fragte: “Warum bist Du arm?”
Er habe Fehler gemacht, sagte Hans Krohn.
“Wie bist Du auf den Strich gekommen?”
Er sei nach ganz unten durch gerutscht, sagte er. Dann erzählte Hans Krohn:
Man muss sich das mal vorstellen:
Hans Krohn durfte auf der Bank neben Goran übernachten.
Das war echt eine Ehre.
Und es kam so:
Goran war die Größe. Er hatte einen der Stammplätze an der Spree. Dauer-Wohner waren außerdem die Schönheit, der Bruno, der Bayer. Sie alle hatten ihre festen Adressen an der Spree.
Linkes Ufer, im Rücken der Reichstag, vor Augen der Hauptbahnhof. Nicht weit zur Beach-Bar (aber wen juckt schon eine Beach-Bar?)
Der größte Trinker von allen war Goran – das hatte er bei ungezählten Festen bewiesen. Eigentlich traute man ihm seine Standfestigkeit gar nicht zu. Goran war schmal und blass, er hatte unreine Haut und steckendürre Beine.
Es war nicht sein Körper, der ihm Respekt verschaffte. Es war sein Mastermind. Goran sah die Menschen an und durchschaute sie. Er war fürchterlich wissend und schlau. Man glaubt es nicht, aber Goran las jeden Morgen die Zeitung. Nicht irgendeine, nein, er war wählerisch. Die „Bild“ studierte er täglich, weil dort alles „aufn Punkt“ gebracht war. Und dann klaubte er aus den Papierkörben rund um den und im Bahnhof noch ausgesuchte Leseexemplare, die von Reisenden weg geschmissen worden waren.
Es konnte also vorkommen, dass Goran auf seiner Bank – das war die, von der aus der Blick zum Hauptbahnhof am meisten her gab – saß, Instant-Kaffee trank und in „Le Monde“ oder der „Times“, zumindest mal in der „Süddeutschen“ oder der FAZ schmökerte.
Er war dann nicht ansprechbar. Die Früchte seiner Lektüre genossen die Freunde abends, wenn gefeiert wurde. Sie staunten nicht schlecht über Gorans Exkurse in die Innen- und Außenpolitik, über seine Zusammenfassung der Berichterstattung von den Salzburger Festspielen. Goran war bestens informiert über die neuesten Entwicklungen in der Formel 1 und konnte drastisch die Gefahren ausmalen, die von den Salafisten ausgehen.
Sein Spezialgebiet freilich war die Situation der arbeitenden Gesellschaft. Er kannte die relevanten Zahlen des Arbeitsmarktes, war in puncto Gesetzesänderungen auf dem Laufenden.
„Das ganze System geht den Bach runter“, erklärte er im nüchternen Zustand.
Angeschickert wurde Goran deutlicher: „Arbeit, ey, Arbeit ist doch Scheiße. Wer arbeitet, muss schon einen geilen Job haben, dass es sich lohnt. Aber der normale Arbeitnehmer bezahlt doch nur die ganzen Schmarotzer, diese Hartz-IV-Fuzzis und so.“
Wenn er betrunken war, redete er Tacheles: „Guckse an, die Merkel und die Arschkriecher-Bande. Fahren in den gepanzerten Mercedes rum und gucken sich die Menschen an wie Tiere im Zoo. Denen sind wir doch komplett egal. Weisste, was sie immer sagen, da hinten im Bundestag. ,Die Menschen draußen im Lande’ sagen sie und meinen uns. Die wollen doch gar nicht mit uns zusammen kommen, die kümmert einen Scheiß, wie es uns geht. Für die sind wir ,die Menschen draußen im Lande’. Und da fühlen sie sich wahrscheinlich noch ganz groß, wenn sie uns als ,Menschen’ bezeichnen.“
So wütete Goran, und die Anderen vergaßen manchmal sogar, den nächsten Schluck sofort zu nehmen. Andächtig hörten sie zu. Wenn er eine Pause einlegte, führten sie die Flasche zum Mund und holten alle versäumten Schlucke schnell nach.
Nur Theresa klinkte sich bei diesen Gelegenheiten oft aus.
Theresa, die Schönheit.
Sie war wohl früher wirklich eine wunderbar aussehende Frau gewesen. Sie hatte braunes schulterlanges Haar, braune nachdenkliche Augen, einen vollen Mund.
Theresa trug immer enge Jeans und ein T-Shirt im Sommer. Wenn es kalt wurde, zog sie Pullover und Anorak über und vertauschte die Sandalen mit Turnschuhen. Hatte sie das T-Shirt an, freuten sich die Kumpels über ihre strammen Brüste mit den immerstehenden Warzen.
Wie alt sie war? Vielleicht 40 oder 45, niemand wusste es. Sie sprach Hochdeutsch und erzählte nie – auch nicht, wenn sie getrunken hatte -, woher sie kam. Es schien, sie sei schon immer da gewesen, aus dem Nichts gekommen und nicht mehr weg zu denken.
Lehrerin war Theresa wohl gewesen. Sie hatte immer ein paar Bücher in ihren Tüten, las viel.
Und sie war auffallend gepflegt. Theresa wusch sich, hatte sauberes Haar, ihre Kleidung roch angenehm. Morgens um halb acht saß sie nach dem Zähne-Putzen auf ihrer Bank – der Schlafsack war eingerollt, die Siebensachen gepackt – beim Frühstück. Sie mochte Obst und Croissants.
Danach schulterte sie den Rucksack und zog mit zwei Plastiktüten in den Händen los. Sie verschwand einfach in der Stadt. Auf ihrer Bank rasteten Touristen und Passanten, es wurde Abend.
Und irgendwann saß sie wieder an ihrem Platz. Sie breitete ihre Habe aus, holte einen Roten aus dem Rucksack, vielleicht ein Stück Brot dazu und schmökerte. Theresa mochte Romane aus dem 19. Jahrhundert und Biographien.
Manchmal notierte sie einen Satz in ein abgegriffenes Schulheft, dann las sie weiter.
Nur selten beteiligte sie sich an den Festen der Nachbarn. Nicht, dass sie menschenscheu gewesen wäre! Theresa war eine freundliche Frau, mit der jeder über alles reden konnte. Sie half gerne, zum Beispiel mit Adressen, wo es Arbeit gab. Überhaupt, auf diesem Gebiet kannte sie sich aus. Theresa sagte, sie hätte nie gebettelt, und das werde sie auch nie tun. Es gebe immer Jobs, die einen durch das Leben in der Stadt brachten. Es gebe immer die Möglichkeit, sich die Knete für den Rotwein und das tägliche Croissant zu erarbeiten.
Sie war die einzige Frau, die dauerhaft an der Spree wohnte. Die restlichen Ansässigen waren Männer.