BRUDERLIEBE

sommer zwanzichfuffzehn XIII

Den Weg war er schon als Schüler gegangen. Meistens allein, die anderen Kinder vom Aussiedlerhof mochte ihn nicht im Rudel haben. So war er für sich den Feldweg entlang getrödelt, ein bisschen rascher hatte er den Wald gequert und nach einer halben Stunde den Ort erreicht. Den kleinen Kanal auf der Brücke überquert, dann konnte er links schon das Schulhaus sehen.

Im Herbst kam er oft durchnässt an, und in der Klasse roch es streng nach feuchter Kleidung. Wenn es Mai wurde, musste er nach dem Gang durchs Getreide dauernd niesen und hatte Asthmaanfälle. Im Winter war er froh, wenn er im Klasszimmer Mütze und Handschuhe abstreifen konnte – und manchmal so durchgefroren, dass er in der ersten Stunde gar nicht mit bekam, wenn er aufgerufen wurde.

Den Weg nach Hause mochte er noch weniger als den Marsch am Morgen. Im Frühjahr zu heiß und der Anfang allen Heuschnupfens. Im Herbst zu nass und zu windig. Im Winter elend kalt und noch einsamer als sonst. Der Weg in die Schule war ärgerlich und mühsam. Wenn Eugen freilich nach Hause trottete, stank es ihm noch mehr, er war ja nie sicher, welchen Ärger es dort geben würde.

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Die Sonne des Ostens.

Dann bekam er sein erstes Moped. Und ging nie mehr zu Fuß in den Ort. Nach dem Moped kamen die Trabants und die Wartburgs. ’85 schwatzte er einem Russen, der in die Heimat versetzt wurde, einen Moskvitsch ab. Da war dann der Motoren-King. 1488 Kubik. Rotbeige lackiert. 50 PS. Innen Teilleder. Und ein griffiges Holzlenkrad. Das konnte nur einer der wenigen Wessis toppen, der sich mit seinem Golf oder gar Mercedes in diese abgelegene DDR-Provinz verirrte.

Normalerweise war Eugens Moskvitsch der Wagen Nummer Eins am See. Wenn er aber die Leute ärgern wollte, fuhr er mit einer der großen Landmaschinen zum Konsum oder zur Gastwirtschaft. Er wusste, dass sie ihn auf dem Kieker hatten und trank in Maßen. Machte ja eigentlich auch keinen Spaß: So allein in der Wirtschaft zu hocken und mit anzuhören, was die ehemaligen Klassenkameraden am Stammtisch beredeten. Nicht dass es Eugen interessiert hätte – er war einfach anders als sie. Aber wenn er so sein Bier im Solo trank, wurde ihm unangenehm bewusst, dass ihn keiner hier bei sich haben mochte. Also wurde Eugen Matuschke an den vielen Abenden vor dem Fernseher zuhause zum durchtrainierten Säufer.

Die Frau war nicht aus der Gegend gewesen. Sie hatte gekellnert und ehe ihr klar wurde, dass man mit dem Eugen nicht zusammen leben konnte, waren sie verheiratet gewesen. Er hatte ihr leidenschaftslos zwei Kinder gemacht. Aber sie war ihm egal gewesen. Er schaffte Ostgeld und Westgeld ran und fand immer neue Varianten, den Sozialismus ums Kapital zu bescheißen. Tagsüber Geld scheffeln und an einem Motor schrauben, abends saufen und mit dem Vater streiten – das war’s.

Für die Frau – das musste man verstehen – hatte er keine Zeit. Sollte sie sich ums Essen und die Kinder kümmern (ach, die Kinder waren auch sehr unwillkommen). Eugen Matuschke jedenfalls hatte keine Verwendung für die Person, die immer mehr zum Neutrum verkam.

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Alles nur Fassade. FOTOS: BARBARA VOLKMER

Dann die Wende. Matuschke steckte bei der Treuhand die Claims ab. Er schaffte sich einen kleinen Tresor an, in dem er seine Papiere verwahrte. Einmal wollte seine Frau wissen, was für Geschäfte er da mache, nur so. Da ballerte er ihr eine. Nur so.

Sie vergriff sich an seinem Wodka. Da schmiss er die Schrazen und die Frau raus. Mietete sie in einer der übrig gebliebenen Plattenbauten im Ort ein, versorgte sie mit einem kleinen monatlichen Zuschuss, der immer weniger wurde, ansonsten waren sie für ihn Luft.

Nur so.

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Er kam an die Brücke. Blickte in den Sommerhimmel und ärgerte sich über die Hitze.

Heute würde er seinem Bruder die Meinung geigen. Der hatte ihm ein Schreiben vom Anwalt zustellen lassen und Geld eingefordert. Das stünde ihm zu – sozusagen als Pflichtteil nach dem Tod der Eltern.

Dabei waren die Eltern schon so lange unter der Erde, dass von ihnen wahrscheinlich nur noch ein paar Knochen rum lagen.

Der Bruder und er hatten telefoniert und waren sofort im Streit. “Ich sag’ Dir was”, bellte der Bruder ins Telefon, “jeder weiß doch, dass Du irre geworden bist da draußen. Wenn ich nicht kriege, was mir zusteht, sorge ich dafür, dass Du in der Klapse landest. Dann habe ich alles. Mein letztes Wort ist das.”

Dieser Verlierer. Dieser Stasi-Schnösel. Diese Null, die in der Siedlung lebte, in der Eugen auch seine Sippschaft abgelegt hatte. Der musste sich schon einen anderen zum Feind machen!

Eugen Matuschke war in der Straße mit den Plattenbauten angelangt. Hatte sich nicht viel geändert, seitdem sie die Mauer zum Westen platt gemacht hatten.

Blühende Landschaften?

Nicht hier. Hier war Endstation.

Viele Wohnungen standen leer. Kinder kurvten zwischen Müllkübeln rum. Ein paar Jugendliche lümmelten in einem Eingang und tranken ein frühes Bier. Einer ließ seinen hässlichen Hund in die räudigen Rabatten kacken. Eine knochige Frau trug schwer an zwei Einkaufstüten. Sie sah sehr dünn und krank und gelb aus.

Eugen Mattuschke wechselte die Straßenseite.

Weiter zum Bruder.

Die Frau blieb seufzend stehen, setzte die Tüten ab, wischte den Schweiß von der Stirn und blickte hinter Eugen Matuschke her.

Was ihr Mann nur hier wollte?

Naja, auf keinen Fall wollte er was von ihr.

24. juli 2015