HIGH NOON

sommer zwanzichfuffzehn XIV

“Ja!”

Kein Fragezeichen, das “Ja” kam kurz und schnarrend als Befehl aus der Gegensprechanlage.

“Ja!”

Eugen Matuschke hatte diese Stimme nie ausstehen können. Mit den Jahren war sie immer rauher und bösartiger geworden.

“Wer ‘n da?”

Matuschke ärgerte sich, dass er dem Bruder antworten musste.

“Eugen. Mach auf. Wir müssen reden.”

“Nee.”

Eugen Matuschke starrte auf die Klingelleiste. Als ob die etwas dafür konnte!

“Doch. Mach auf. Sonst…”

“Du Arschloch, was heißt da ,sonst’? Schickt der mir doch glatt den Anwalt auf den Hals. Und dann will er auch noch reden. Da gibt’s nichts zu reden. Ich will meinen Anteil – und Schluss. Übrigens, den Brief von Deinem Rechtsverdreher kannst Du Dir irgendwohin schieben. Und jetzt lass’ mir meine Ruhe.”

“Du hörst mir jetzt zu.”

“Gar nicht zuhören werde ich. Ich gehe jetzt zum Telefon und ruf’ die Bullen. Und dann sehen wir mal, wie schnell die Dich in die Anstalt bringen.”

Es knackte in der Anlage. Eugen Matuschke überlegte. Er stank nach Fusel und war ein Penner aus dem Bilderbuch. Niemand mochte ihn – es gab Bullen, die ihn mit Freude hopp nehmen würden. Wenn er dann noch ausrastete – dann würde das nicht gut weiter gehen.

Zögernd drehte er sich um, trat auf die Straße. Er blickte zum Fenster der Wohnung im zweiten Stock. Der Bruder hatte die Gardinen auseinander gezogen und grinste nach unten.

Matuschke ging. Er marschiert über den Marktplatz in die Bank. Frau Stolpe hinter dem Schalter erschrak, fing sich: “Herr Matuschke, guten Tag, was kann ich tun?”

Geld wollte er. Na sicher, sagte sie. Erschrak wieder, als er 2000 Euro aufrief, in Hunderter-Scheinen.

Er nahm die Kohle in Empfang, stopfte sie in eine Tasche der kurzen Hose, verließ die Bank, ging in Richtung Ortsausgang, bog hinter dem Elektrogeschäft auf den Parkplatz des Supermarkts ein, besorgte sich zwei Flaschen, verstaute sie in einer Tüte, trat wieder auf den Parkplatz, kaufte in der Bäckerei einen Pott Kaffee, setzte sich an eines der Tischchen, von denen aus man jeden Marktkunden beobachten konnte.

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Voilà: der Treff für nette Menschen!

Er tat viel Milch in den Kaffee, füllte mit Wodka auf, trank. Füllte wieder auf. Das Spiel hatten sie schon als Jugendliche gemocht. “Schweden-Punsch” hatten sie es genannt. Hellen Kaffee so lange saufen und mit Schnaps auffüllen, bis der Boden der Tasse gut zu erkennen war. Tolle Wirkung garantiert.

Während er sich am Schweden-Punsch abarbeitete, hörte er grimmig den Leuten aus dem Dorf zu, die vor dem Markt ihr kleines Schwätzchen hielten. Viele unansehnliche Frauen und aus dem Leim gegangene verquollene Männer hatten sich Wichtiges zu erzählen.

Der Dingsbums sei wieder ins Krankenhaus gekommen, der Krebs war zurück. Die Frau vom “Stadtwirt” habe es beim Kegeln erwischt – Bandscheibe. Einer klagte, der neue Zahnarzt tauge nichts, der sei nur aufs Geld aus. Ja, das kenne sie, bestätigte eine Frau, und beim Doktor in der Blumenstraße hatte sie unlängst über eine Stunde warten müssen. Für fünf Minuten Untersuchung und den Rat, nicht soviel zu rauchen und mehr an die frische Luft zu gehen. Man müsse sich das mal vorstellen!

Verstauchter Fuß. Masern. Pseudo-Krupp. Viel zu jung gestorben. Dem Suff verfallen. Unheilbar. Schweißfüße und Hühneraugen. Lichtempfindlichkeit und Depression.

Matuschke süffelte seinen Punsch, beruhigte sich leidlich. Das mit dem Bruder vergaß er nicht, aufgeschoben, nicht aufgehoben.

In der Tasche fühlte er fast zweitausend Euro, in seinem Kopf machte sich böses Wach-Sein breit. Jetzt wollte er erst einmal seinen Spaß haben. Der Ritt konnte beginnen.

Er tastete in der zweiten Hosentasche. Ja, Handy war dabei. Matuschke rief den örtlichen Taxiunternehmer an. Er brauchte einen Wagen, sofort. Wohin? Ging das jemanden was an? Wie gesagt: Ein Wagen! Sofort!

Auf ex weg mit dem Rest-Kaffee. Das Aufstehen war ein wenig wacklig, wahrscheinlich wegen der Hitze. Aber das Hören klappte einwandfrei.

“Rheuma.”

“Anfälle.”

“Er plagt sich sehr mit der Akne. Und dann die Pubertät.”

“Das ist schlimm mit dem Schwitzen.”

“Ich hab’ meine Wechseljahre überhaupt nicht gespürt.”

“Sei froh.”

“Der Vater macht es nicht mehr lang.”

“Jaja. Schlimm.”

“Ich darf keinen Zucker.”

Sie waren zum Kotzen, diese Frauen und Männer mit ihren voll bepackten Einkaufskarren. Der ganze Ort war sowas von krank.

Endlich: das Taxi.

25. juli 2015