PULSSCHLÄGE

berlin, 14. märz 2015
Grau verwaschen der Himmel über dem Ku’damm. Eilig die Menschen. Der Hund vom Bettler am Olivaer Platz sucht Streit mit einem altgedienten Berliner Dackel, der Bettler beruhigt ihn mit einem Keks. Ein Herr – Sonnenbank-Bräune, Kaschmirmantel, Budapester Schuhwerk – bleibt versonnen vor einer Litfasssäule stehen. Da gurren sie und geben sich lose, sie saufen und weibern – die Damen und ihre Kavaliere auf den Fotos aus den 1920-ern. Sie ködern das Publikum, locken in Veranstaltungen, die das “Berliner Blut” im Konzerthaus wallen lassen sollen. Berliner Blut – wie pulst das eigentlich wirklich in diesen Märztagen des Jahres 2015?
“Aufregend, kreativ, dynamisch und weltoffen – so war Berlin. So ist Berlin. Wir widmen das Festival Mythos Berlin dieser sich stetig verändernden und sich gerade darin selbst treu bleibenden Stadt.”
So heißt es in der Ankündigung des Konzerthaus-Zyklus.
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Das ist die Berliner Guck-in-die-Luft…,

“Intellektuelle, Kulturschaffende und Lebenskünstler waren in Berlin schon immer willkommen. Sie fühlen sich in dieser Stadt wohl und bedanken sich für die gewährten Freiräume mit visionären Ideen und kreativer Kraft. Schon die 1920er Jahre waren für die Künstler Berlins inspirierende Zeiten. Komponisten wie Hanns Eisler, Kurt Weill, Franz Schreker und Heinz Tiessen schufen mit ihrer Tonsprache den ganz besonderen Klang der Stadt. Ihre Werke sind im Festivalprogramm genauso vertreten wie die aktuelle Antwort des in Berlin lebenden Komponisten Christian Jost, der mit seiner „BerlinSymphonie“ ein musikalisch schillerndes Nachtbild der Stadt entwirft, die niemals schläft.”
Was weiter noch zu sehen sein wird: rappende Handpuppen in Begleitung eines Swing-Orchesters, Klassik-Stars und DJs in einer Yellow Lounge, Wasserwellen, Stola und Gamaschen bei der Party Bohème Sauvage…
Der Herr vor der Litfasssäule ist angenehm berührt. Ja, so mag er sein Berlin.
Aber nun genug geguckt. Jetzt flaniert der Mann weiter in Richtung Kempinski. Es ist Zeit für ein Journal und einen Espresso.
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…die die Kerle zu den Weibern ruft.

Da sitzt man dann unter anderen Kaffee-Häuslern und besieht sich das Treiben draußen vor der Scheibe. Man hat Muße – und macht sich so seine Gedanken über die City und das Berliner Blut und den Herzschlag dieser Stadt.
Was geht denn vor da draußen?
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In Kreuzberg haben die Anrainer die Nase voll. Lautes Grölen, Pfützen aus Erbrochenem und das fortwährende Rattern der Rollkoffer rauben ihnen den letzten Nerv. Die Touristen sind schuld, jetzt sollen sie endlich eingenordet werden. Vom 8. Mai bis zum 11. Juli werden Pantomimen an 15 Wochenend-Abenden gemeinsam mit Mediatoren versuchen, nächtliche Störenfriede zur Räson zu bringen.
Weil:
Auch in Berlin hat eine Toleranz ihre Grenzen.
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In Zehlendorf ist Krieg. Wegen der Kack-Hunde. Wie schon im “Journal” beschrieben rüsten sich rund um den Schlachtensee die Hunde-Gegner gegen die Hundehalter zum Raufen. Vom 15. Mai an soll dort auf Betreiben der Grünen-Stadträtin Christa Markl-Vieto ein generelles Hundeverbot gelten. Auch angeleint dürfen die Tiere dann nicht mehr am Uferweg laufen. Eine Gütlichkeit ist nicht mehr in Sicht – jetzt geht die Sache vors Gericht.
Weil:
Wenn’s um die Hunde-Wurst geht, wird die Sache tierisch ernst.
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Der Aufsichtsrat des Hauptstadtflughafens BER empfiehlt den Eigentümern, 1,1 Milliarden Euro für den Weiterbau des Flughafen freizugeben – ein Teilerfolg für Hartmut Mehdorn, der jedoch auf einen letzten öffentlichen Auftritt verzichtete.
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Und die Damen mögen’s sehr…,

So etwas kennt man von Mehdorn, dem einsamen grauen Wolf, gar nicht: Dass der den Schwanz einzieht und eine Gelegenheit zum Kläffen auslässt.
aBER:
Genug gebellt, man kann es nicht mehr hören.
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Wird das Hasch erlaubt? Die Grünen wollen’s so. Auf 70 Seiten haben sie 45 Paragrafen zu Papier gebracht – ein neues Cannabiskontrollgesetz (CannKG) könnte mit einem Schlag Millionen Deutsche entkriminalisieren und Milliarden in die Staatskasse spülen. Allein in Berlin könnten mindestens  90 Millionen Euro eingespart werden.
Und:
Berlin drückt die Daumen – soviel Toleranz muss sein.
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Dann hat die Stadt auch auf den letzten Drücker noch entdeckt, dass es doch ganz schön wäre, 2024 Olympia-Gastgeber zu sein. Kurz vor der Entscheidung, ob Hamburg oder Berlin sich für die Spiele bewerben darf, legt man sich an der Spree noch mal mächtig ins Zeug.
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…mit Berlinern spielen ist nicht schwer.

Die “Berliner Zeitung” fragt junge Menschen, warum sie Olympia geil finden. Und bekommt beispielsweise vom paralympischen Schwimmer Felix (213) die Antwort: “Olympia bei uns wäre klasse. Dann könnten wir allen zeigen, was Berlin für eine tolle Stadt ist, wir sind nämlich die Besten.”
Merke:
Wer tief stapelt, bleibt sitzen.
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Ein Berliner hat es in dieser Woche schon auf den Olymp geschafft. Jan Wagner bekam als erste Lyriker überhaupt den Großen Preis bei der Leipziger Buchwoche. Er ist wohltuend bescheiden aufgetreten. Dankbar sei er, ganz toll dankbar. Und am besten lasse er jetzt seine Gedichte für sich sprechen.
Zum Beispiel, der nahenden Jahreszeit Tribut zollend, ein paar Zeilen aus „Das Weidenkätzchen“:
warum sich tante mia wann genau
ein weidenkätzchen in die nase steckte,
verschweigt die geschichte. sicher ist: es wich,
je mehr sie es zu fassen suchte, stetig
zurück in seine dunkelheiten, weich
und weiß, ein hermelin in seinem bau.
der punkt, an dem die dinge sich entfernen;
der augenblick, in dem wir ignoriert
und nur noch zeuge sind oder statist,
bis jener teppich ruiniert,
der flügel aus dem zehnten stock gestürzt ist,
die ganze stadt ein flammendes inferno.
Na bitte:
Erster Preis.