AUF “PLATTE”

münchen, 24. februar 2015

Um sieben Uhr abends steht die High-Tech-Uhr still, bei Sat.1 ist der Countdown abgelaufen. 0:00:00:00 Stunden! Jetzt geht es los. Die Zeit von “Newtopia” ist gekommen. Im Stakkato wird der Zuschauer auf das eingestimmt, was er auf keinen Fall verpassen darf: KEINE REGELN! KEIN KOMFORT! LET’S GO! DAS SCHAFFEN WIR! BESSERE GESELLSCHAFT! VOLLKOMMENES GLÜCK? TOTALES CHAOS?

Wir werden es sehen. Wir werden es erleben. Nicht mehr zu Luft werden wir kommen, weil es so spannend und neu sein wird. Wir werden gucken, weil die von Sat.1 uns sagen, dass wir gucken müssen.

Neue Ära.

“Newtopia”!!!

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15 Menschen auf der Suche nach dem Glück. Die Versuchspersonen von “Newtopia” stellen sich auf Sat.1.

 

Im Fernsehen packen 15 Menschen – großteils Problemfälle der Gesellschaft, jeder auf seine Art – ihr Überlebensgepäck aus, verabschieden sich weinend von ihren Liebsten und erklären, warum sie tolle Typen sind.

Währenddessen sitzt der, der es ins Fernsehen gepowert hat, vor dem Bildschirm und reibt sich die Hände. TV-Pionier John de Mol hat mit “Newtopia” seinen nächsten Coup gelandet. Der Holländer, der sich als schüchternen Menschen beschreibt, weiß: “Newtopia” wird klasse aus den Startblöcken kommen. Dem Deutschlandfunk erklärt er:

“Ich bin jemand, der gerne gegen die Regeln arbeitet. Weil, wenn man das macht – immer die Regel – macht man zuviel das Gleiche. Trotzdem glaube ich, dass die Grundstruktur von der Idee ,Newtopia’ eine bestimmte Sicherheit gibt, dass es kein langweiliges Fernsehen wird. Weil, wenn die Leute, die 15 Pioniere, wie wir sie nennen, nichts machen, dann leben die nicht lange hier. Weil dann gibt es kein Essen, kein Wasser – überhaupt nichts. Die müssen etwas machen, um zu überleben.”

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Um sieben Uhr abends kommen Ernst und Sabine wieder auf dem U-Bahn-Lüftungsschacht am Münchner Isarring zusammen. Sie haben ihre Wege in der Stadt abgeschlossen. Sabine hat beim Containern genug Lebensmittel fürs Abendessen gehamstert. Ernst war mit dem Flaschenpfand dran – der Erlös reicht locker für die Getränke einer fröhlichen Nacht.

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Keine Utopie. Realität ist die Schlafstelle am Münchner Isarring. Zwei Menschen überleben dort, Nacht für Nacht.

 

Sabine und Ernst checken, ob die Schlafsäcke und die Besitztümer unter den Plastikplanen komplett sind. Alles paletti. Sie setzen sich aufs Gitter und genießen die warme Luft, die von unten kommt.

“Saublöder Regen”, sagt er. Sie nickt. Das braucht es doch wirklich nicht: So ein zäher Fiesel-Niesel-Nachmittag und -Abend. Aber man kann es nicht ändern. Die beiden ziehen die Kapuzen in die Stirn und trinken.

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“Es gibt Leute, die sagen: Ach ja, wenn wir 100 Euro die Woche verdienen, reicht das zum Essen und Trinken – und lass uns weiter einfach glücklich sein. Aber es gibt auch Leute, die sagen: Nein, wenn wir 100 Euro verdienen, müssen wir die wieder investieren in etwas, damit wir nächste Woche 200 Euro verdienen. Eigentlich wie in der echten Welt. Aber hier müssen die sich irgendwie einigen, weil die können nicht weglaufen voneinander. In einem Land ist das einfacher. Also – die müssen sich einigen.”

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Sabine und Ernst haben vor Kurzem drei Mitbewohner von der Platte gejagt. Die haben sich einfach nicht an ungeschriebene Regeln halten wollen. Sind abends ohne Beute aus der Stadt zurück gekommen – aber beim Saufen und beim Fressen waren sie die Ersten.

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München, ganz unten. Die Menschen, die hier landen, sind wirklich aus dem Verkehr gezogen.

 

Sie haben sich auch am Gepäck von Sabine und Ernst bedient. Obwohl die immer die Planen über ihre Sachen decken, bevor sie los tippeln. Die Planen haben sie eigens bei einem Reifenhändler in Milbertshofen organisiert – die sind besonders haltbar, blick- und absolut wasserdicht. Eins-A-Folien sind das. Und die Anderen haben sie einfach runtergerissen und sich an den Sachen vom Ernst und der Sabine zu schaffen gemacht.

“Da hab’ ich sie naus gehaut”, erzählt der Ernst. Musste sein. Weil: Wenn sich einer hier auf “Platte” nicht zu wehren weiß, dann geht er unter. Das hier draußen ist echt kein Spaß im nasskalten Februar.

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365 Tage haben die Zeit, um ihre Gesellschaft zu bauen und zu strukturieren. Aber wenn man die Bedeutung des Wortes Utopia wirklich checkt, dann ist das eine utopische, ideale Welt. Man kann die Frage stellen: Ist es überhaupt jemals möglich, das zu erreichen? Und wenn wir nach einem Jahr in Holland wirklich richtig geschaut haben, wo sind die jetzt und wir auch mit den Pionieren überlegt haben, seid ihr zufrieden, habt ihr das Gefühl, wir haben es geschafft, dann haben alles gesagt: Nein, noch nicht. Also haben wir die Frage gestellt: Wenn wir weiter machen würden, würdet ihr mitmachen? Und dann haben alle außer zwei gesagt: Ja, gern!”

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Ja, sagt Ernst, man kann das alles nicht mehr rückgängig machen. Die Gesellschaft kann mit ihm nichts mehr anfangen, er ist auf diesem Luftschacht gelandet, nichts zu ändern. Klar, oft denken die Sabine und er, es wäre schon super, abends in ein gemachtes Bett zu steigen, ein Dach über dem Kopf zu haben, sich nicht mit dem Fiesel-Niesel-Regen herum schlagen zu müssen. Klar wäre es schön, nicht so arg zu stinken und noch alle Zähne zu haben.
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Der Rest eines Lebens.

Aber das sind halt so Träume.
Völlig utopisch.
Weil das, was sie in München erleben, die Realität ist. Dafür gibt’s auch keine Quote.
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Hinten pennen Ernst und Sabine, vorne dürfen die Leut’ an der Bushaltestelle träumen. Oder den Alb träumen. Wie es ihnen gefällt.