ALLES ANDERS

„2017”*, Folge 25, 12. Oktober. Frauke Petry hat jetzt eine eigene, eine „Blaue Partei“. Die werde die AfD plattmachen. Ihre Mandate im Bundestag und im sächsischen Landtag wird sie natürlich behalten. „Das Mandat, auch wenn es mit Parteimitteln errungen wurde, ist kein Eigentum der Partei. Ein freies Mandat beinhaltet eine Loyalität dem Wähler gegenüber.“

 

Politik ist Eddy egal.

Am Donnerstag checkt er nichts.

Donnerstag = Mandy.

Er ist ganz arglos, als im Fernsehen live eine Pressekonferenz in der Mohrenstraße 39 übertragen wird. Günter Schabowski referiert über eine ZK-Tagung, das ist ein endloses Gemurmel und Geleier. Eddy tätschelt Mandy den Busen und fragt, ob er vielleicht was kochen soll.

Psst!, macht sie, sie möchte zuhören.

Jemand, ein Italiener wohl, fragt etwas.

„Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenigen Tagen?“

Schabowski räuspert sich. Er blickt auf seine Papiere, er sieht nach links und nach rechts. Er formuliert lange nichtssagende Sätze, wird leiser und leiser.

Dann sagt er:

„Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“

Es wird gefährlich still im Fernsehen.

 

Mandy wischt Eddys Hand von ihrem Körper. Sie sitzt auf der Kante des Sofas und starrt zu Schabowski hin. Es ist drei vor sieben, als jemand fragt:

„Ab wann tritt das in Kraft? Ab sofort?“

Schabowski ist in Not. Vielleicht retten ihn die Papiere. Papiere waren immer gut. Schabowski liest:

„Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa, zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen…“

Ein deutscher Journalist klinkt sich ein:

„Wann tritt das in Kraft?“

Schabowski:

„Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Der Journalist will es genau wissen. Ob das auch für Berlin gelte? Ob das auch für Berlin gelte? Schabowski raschelt mit den Papieren. Dann hat er etwas zum Verlesen.

„DIE STÄNDIGE AUSREISE KANN ÜBER ALLE GRENZÜBERGÄNGRE DER ddr ZUR brd BEZIEHUNGSWEISE ZU BERLIN-WEST ERFOLGEN.“

 

Mandy verschwindet im Bad und kommt angezogen zurück. Eddy fragt, was los ist.

„Ich habe ganz vergessen, dass ich noch eine Verabredung habe. Dienstlich. Du musst gehen?“

„Was? Jetzt? Heute, am Donnerstag? Kannst Du das nicht verschieben?“

„Nee, tut mir leid.“

Na gut, meint er. Dann eben bis zum nächsten Mal.

Ja, sagt sie, bis zum nächsten Mal.

Er freue sich, sagt er.

Ja, sagt sie, sie freue sich auch.

 

Es ist halb acht, als Eddy auf die Frankfurter tritt. Alles ist so ganz anders als sonst. Er versteht erstmal gar nichts. Dann wird er in den Sog der Menschen gerissen, die zur Mauer drängen. Alle reißt es in die Nacht. Ihn auch. Er begreift:

Jetzt wird alles gut.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.