ALBTRAUM KUNST

berlin, 3. februar 2016

Das Deutsche Historische Museum ist derzeit gut besucht. Menschen aus aller Welt lösen erwartungsvoll ihr Ticket und wissen nicht, worauf sie sich einlassen. Sie werden mit hundert Bildern konfrontiert die während der Shoah in der Nazi-Zeit entstanden sind. Die Besucher passieren die freundlichen Livrierten am Eingang, lassen sich mit einem Handy-Guide ausstatten und finden sich wieder in einem musealen Albtraum.

„Schönheit und Grausamkeit“ (New York Times). „Direkt aus der Hölle” (Die Welt). „Landschaften des Grauens“ (Süddeutsche Zeitung). „Sie träumten von Mädchen im Sommerkleid auf blühender Wiese“ (FAZ).

Die Feuilletonisten aus aller Welt liefen nach erster Sprachlosigkeit zu Chronisten mit einem Hang zu Superlativen auf.

 

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Deutsches Historisches Museum in Berlin, Winter 2016: Kunst, die durch Mark und Bein geht.

 

Die Geldgeber indessen versuchten sich in staatstragender Wichtighuberei. So die „Bild“-Zeitung, die in einer kleinen Serie das Monopol für Kultus und Moral für sich beanspruchte („Bild erklärt die Kunst“). Staatstragend gaben sich auch die Texter der Marketingabteilung der Deutschen Bank:

„Vom 26. Januar bis zum 3. April 2016 sind im Deutschen Historischen Museum in Berlin 100 Kunstwerke aus der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem zu sehen. Die Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“ ist in Zusammenarbeit mit der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. und auf Initiative der BILD entstanden; gefördert wird sie von der Deutschen Bank und der Daimler AG.

Die 100 Arbeiten stammen von jüdischen Häftlingen aus verschiedenen Konzentrationslagern, Arbeitslagern und Ghettos. Die Werke sind nach Themen gegliedert, die vom Porträt über die alltägliche Grausamkeit im Lager bis zur Erschaffung einer idyllischen Gegenrealität reichen.

“Aufarbeitung und Verpflichtung prägen auch das Handeln der Deutschen Bank in Bezug auf ihre eigene Geschichte”, erklären John Cryan und Jürgen Fitschen, Co-Vorsitzende des Vorstands der Bank. Und sie versprechen, man werde „aktiv dazu beitragen, damit wir heute weiterhin aus der Vergangenheit für morgen lernen.“

Nun musste nur noch die Kanzlerin etwas Offizielles beitragen. Also sprach Angela Merkel – und lag damit natürlich “goldrichtig”:

„Man kann sich diesen Bildern nicht entziehen. Es geht immer um einzelne Menschen in diesen Bildern, und das macht gerade den Schrecken aus.

Nach dem Zivilisationsbruch der Shoah wurde oft diskutiert, ob nach Auschwitz überhaupt noch Kunst möglich sei. Diese Werke zeigen die Schrecken der Shoah. Es sind Werke, die Kunst und Dokument gleichzeitig sind.

Das millionenfache Leid der Shoah ist Teil unseres nationalen Gedächtnisses!“

Danach gab es Häppchen und ein Gläschen.

Und als die Prominenz weg war, wurden die Menschen eingelassen.

Die Ausstellung ist furchtbar beeindruckend. Schon nach den ersten Bildern sind die Besucher überfordert. Ein alter Mann hat sich ein aufklappbares Schemelchen mitgebracht, weil seine Beine nicht mehr so recht mit tun. Er hockt vor einem Porträt und hört fassungslos zu, wie ihm durchs Handy erklärt wird, dass im Ghetto gestandene jüdische Künstler allen Manierismus fahren ließen  und sich nur noch darauf konzentrierten, die Gesichter der Mitmenschen möglichst genau für später festzuhalten.

 

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Einblicke ins Ghetto. Petr Ginz’ Zeichnungen sind voller Talent und Kunstfertigkeit – und sie sind furchtbar, akribisch, verstörend.

 

Eine junge Frau geht schneller und schneller. Sie hört gar nicht mehr hin, was ihr erzählt wird. Nur weiter, die Pflicht hinter sich bringen, nicht gleich weg laufen. Aber auch so schnell wie möglich wieder raus.

Vor einer Zeichnung des 15-jährigen Petr Ginz steht ein Mädchen. Wasserfarbe, Tinte und Bleistift auf Papier. Alltag im Ghetto von Theresienstadt. Es ist das Werk eines jungen Mannes mit einem überbordenden Talent und mit einem liebevollen Blick auf die Welt.

Das Mädchen starrt auf die Zeichnung und versucht zu begreifen, was da jemand im Handy-Guide erzählt. 15 ist Petr gewesen, als er das zeichnete, was jetzt in Berlin zu sehen ist. Tagebuch hat er auch geschrieben. Und er hat sich sehr auf das gefreut, was er noch vor sich hatte. Jetzt, notierte er, wisse er, wie er sich die Zukunft aussehen würde. Er würde versuchen, die Wunder um ihn herum zu begreifen. Er müsse ja nur die Werke der größten Denker der Menschheit zur Hand nehmen und verinnerlichen. Dann werde er schreiben und zeichnen und dichten und musizieren und ein Mädchen lieb haben. Das sei ein Lebenswerk, das zu großem Glück führen würde. Ein herrlicher Gedanke.

In diesem Jahr – es war 1944 – haben sie ihn in Auschwitz ermordet.

Das Mädchen vor der Zeichnung kann nicht mehr. Es eilt achtlos an den restlichen Bildern vorbei zum Ausgang. Dort nimmt eine livrierte lächelnde Dame den mobilen Guide in Empfang. Das Mädchen stolpert über die Treppe ins Untergeschoss, holt Anorak und Rucksack ab, steigt nach oben, tritt auf den Platz vorm Museum.

Passanten haben es eilig. Politessen tippen Strafzettel für Falschparker. Gelbe Doppeldecker. Baulärm vom Schloss. Ein Hund kläfft. Das pralle Leben. Berlin eben.

Und ein Mädchen, das so ein schales Gefühl hat: genug erlebt für heute.