KALT ERWISCHT

brenner, im november 2016 — ÜBERN BERG, Teil I

 

Im Gasthof „Wolf“ – zwei Wegstunden vor der Passhöhe – sitzen sie am Stammtisch und diskutieren, ob in der Nacht der Schnee kommt. Oben am Brenner, sagt einer, ist ja schon Winter, das taut nicht mehr weg vorm nächsten Frühjahr.

Die Männer nicken. Einer ruft quer durch den Raum:

„Was macht Ihr Zwei denn hier auf d’Nacht?“

Man wolle den Brenner überqueren. Rüber nach Italien, Richtung Bozen. Ob man da eine Variante zur alten Passstraße habe?

„Nein, da gibt’s nix. Keinen Weg für Wanderer oder Radfahrer. Nur die alte Römerstraße, die Zugtrasse und die Autobahn. Mehr ist nicht. Was wollt’S denn mitten in der Nacht da draußen. Habt’S eine Wette?“

Nein, das nicht. Ist halt ein kleines Abenteuer.

Die Männer nicken. Prosten durch den Raum. Reisende soll man nicht aufhalten.

Sie unterhalten sich über einen, der nach Hall ins Krankenhaus gekommen ist. Beim Holzen ist er umgefallen, auf einen Schlag.

„Der kommt nicht wieder“, sagt einer.

„Nein , nicht so bald.“

„Und wenn – dann wird er nicht mehr.“

Prost.

Der Wirt bringt eine Suppe mit Speckknödeln. Man solle es sich schmecken lassen. „Ist heiß, aber das passt für Euch. Heut‘ Nacht wird’s schneidig da draußen.“

Nach der Suppe gibt es einen Blaubeer-Schmarrn. Schön heiß.

Dann den Anorak vom Kachelofen geholt, die Mütze aufgesetzt, den Rucksack geschultert. Die Männer heben die Gläser und wünschen guten Weg.

Die schwere Tür des Wirtshauses fällt ins Schloss. Wir stehen draußen. Die Kälte pixelt im Gesicht.

Zwei Stunden später queren wir einen Kreisverkehr, an dem ein einsamer Polizist Schmiere steht.

Menschenleer ist der Brenner hier oben nur auf den ersten Blick. Hier stehen sie überall Schmiere und fahren Patrouille. Passen auf, dass keine „Neger“ von Italien herüber machen.

 

 

Unlängst hat es wieder in der Zeitung gestanden:

Er schaute durch einen Schlitz in der Plane und wurde entdeckt

Brenner – Am Brenner ist am Samstagabend ein Flüchtling stark unterkühlt in einem Lkw entdeckt worden. Bei der Lkw-Kontrollstelle schaute der Mann durch einen Schlitz in der Plane heraus und wurde dabei von einem Passanten entdeckt.

Die Polizei nahm den etwa 20-jährigen Migranten fest. Medienberichten zufolge soll es sich um einen afghanischen Flüchtling halten.

Auf einer Fähre von Griechenland nach Venedig dürfte er in den Lkw gelangt sein und bis zur österreichischen Staatsgrenze dort ausgeharrt haben.

Der Lkw-Fahrer erklärte, nichts von dem blinden Passagier auf seinem Hänger gewusst zu haben.

 

 

„Des warst doch Du“, sagt einer, der gerade die Heimatzeitung studiert, und stupst dem schwarzhaarigen jungen Mann den Zeigefinger gegen die Schulter.

Der Angesprochene hat nicht ganz verstanden. Piano! Langsamer! So gut ist sein Deutsch dann doch nicht.

„Hast gestern den Typen ausm Wagen geholt? Kontrolle, verstehst. Afghane. Asyl. Zurück!“

Achso, ja, capito. Gennaro Sibillo (Name geändert) nickt. Ja, das war er. War ja kein großes Ding. Er hat den Lkw umrundet und schon so eine Ahnung gehabt. Der Kollege hatte ihn vorgewarnt, der Fahrer und sein Beifahrer seien wohl nicht ganz sauber. Es hat aus dem Führerhaus gemüffelt, weil da Menschen seit Längerem auf engem Raum gesessen und geschwitzt und geraucht und gefurzt hatten.

Gennaro ist also mit wachen Augen am Auto entlang getigert. Die Klappe hinten war sorgsam gesichert. Sibillo wollte gerade den Fahrer auffordern, er möge das Schloss entfernen, da bewegte sich die Plane an der linken Seite ganz leicht.

„Der Mann hat nicht den Kopf hinaus getan. Der wollte ein bisschen Luft.“

Sibillo und sein Kollegen zerrten die Plane hoch. Da saß der Typ, er hatte sich in eine Ecke hinter der Fahrerkabine gedrückt.

„War allein. Hat viel Angst. Wir haben ihm neues Hemd und Hose gegeben. Kein Englisch, kein Deutsch. Viel Hunger. Dann sind Kollegen aus Bozen gekommen und haben Mann geholt.“

Morgen: Braune Brut