ABGELEBT

berlin, 6. januar 2015

Die freizügige Dame in der Tag und Nacht geöffneten Balkan-Bar ist stocksauer. Der Müllhaufen vor dem Eingang verderbe das Geschäft, schimpft sie. Das vergrätze doch die Kunden, die ordentlich Kohle locker machen würden. Nur die alten Bekannten, die sich stundenlang an einem Bier festhalten, würden kommen. Denen graust es vor gar nix. Auch nicht vor diesem Haufen Müll.

Die Frau zupft an ihrem Dekolletee, dreht die Hitparade aus Bulgarien auf volle Lautstärke und versucht – man ist es nun mal so gewohnt – ihr Glück. „Magst Du mir einen Piccolo ausgeben?“

Der Gast will nicht, da setzt sie die Tirade gegen die Stadtwerke fort. Anfang Dezember haben sie die Leiche des alten Mannes raus getragen, eine Woche vor Heiligabend schafften sie den ganzen Dreck aus der Wohnung aufs Trottoir, zogen Absperrbänder um den Müllhaufen.

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Es hat sich ausgeruht. Uwes Kopfkissen. FOTOS: DETLEF VETTEN

„Und jetzt liegt das Zeug da und stinkt. Kümmern tut es niemanden.“

Wer denn der alte Mann gewesen sei?

Ach, der habe im Nachbarhaus gewohnt. Seit sie denken kann, ist der ein Teil der Flughafenstraße gewesen. Armes Schwein! Zum Schluss habe man ihn nur noch selten gesehen. „Der konnte nicht mehr. Ist nur ganz langsam voran gekommen mit seinem Rollator. Zu uns ist er manchmal rein, da hatte er dann schon zuviel. Hat sein Bier getrunken und kein Wort gesagt.“

Die Bardame fragt einen Stammkunden, ob er sich erinnern könne. Schon, meint der. „Der wollte nicht reden. Sah ganz schön Scheiße aus. Uwe hieß der, oder so. Nee, der ist nicht oft hier rein gekommen. Ich glaube, der ist immer in die Bergklause.“

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Bitte entsorgen! Uwes Habe vor dem letzten Weg.

Es war ein mühsamer Weg. Jeden Tag quälte sich Uwe, Schrittchen für Schrittchen, hinunter zur Karl-Marx-Allee. Bog nach rechts ab, manövrierte sich durch das Fußgänger-Gewimmel, nach 50 Metern ging es wieder rechts weg, hoch zur „Bergklause“.

Die Gäste dort können sich an Uwe erinnern. Er trudelte immer zwischen zehn und elf ein, setzte sich an einen der kleinen Tische. Er hat es gemocht, wenn sie im Fernsehen so Tierfilme aus deutschen Zoos zeigten. Bier und Korn – das war seins. Uwe hat gut zugehört, wenn sich die Anderen an der Theke über den Tag und die Welt unterhielten. Dann lächelte er oft so seltsam. Er selbst redete selten. Gegangen ist er, wenn die Gerichtsshows zu Ende waren.

„Die Helga hat ihn gemocht.“, sagt einer. Die Kumpels nicken. „Die Helga hat ihn wieder in die Kneipe geholt, als seine Frau gestorben ist. Das war vor vier Jahren und so.“

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Der “Schatz” des Müllhaufens – endgültig vom Netz gegangen.

Ja, genau. Der Uwe. In den guten Zeiten ist er manchmal sogar mit seiner Alten hier aufgetaucht, sie hat grüne Liköre gemocht. Damals brauchte der Uwe noch keinen Rollator.

Die Helga, die gute Seele der „Bergklause“, hat den Uwe nach dem Tod seiner Frau – Brustkrebs war das wohl – angerufen (die hatte ja von allen Stammgästen die Telefonnummern) und überredet, wieder unter die Menschen zu gehen. Hat ihn auch im Krankenhaus besucht, als er wegen einer Herzgeschichte im Krankenhaus zu liegen kam.

Nun ist die Helga seit letztem Sommer im Ruhestand. Und so hat sich auch niemand so richtig gekümmert, dass der Uwe plötzlich nicht mehr auftauchte.

Wann das war? Naja, im Oktober oder so.

„Er war sehr krank“, sagt einer. Der hat‘s ja fast nicht mehr die Straße hoch geschafft.

Einmal, ergänzt ein Anderer, sei der Uwe mit einem papierweißen Gesicht in die Kneipe geschoben gekommen. „Der war in den Arcaden gewesen und hatte noch die Kaufland-Tüten dabei. Das hat nur geklimpert. Später ist er am Tisch eingeschlafen. Die Helga hat einen von uns mit ihm nach Hause geschickt. Der hat ihn bis rüber in die Flughafenstraße begleitet. Wie es bei dem in der Wohnung ausgesehen hat, hat aber keiner gewusst. Der Typ ist ja wohl ein echter Messi gesen.“

Sie unterhalten sich über den Müllberg. Über den orangefarbnenen Bürostuhl mit den defekten Rollen, über die zerschlissenen Sessel und die leeren Weinpullen, den Fernseher aus dem letzten Jahrhundert und das kalt gewordene Kopfkissen.

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Weg damit! Zuerst brauchte Uwes Frau den Sessel nicht mehr, nun ist auch seiner zu nichts mehr nutze.

„War doch kein Leben mehr“, sagt einer. Die Anderen nicken.

Im Fernsehen läuft eine Tiersendung.

„Weiß einer, wo sie den begraben haben?“

Nee, keiner weiß es.

Vielleicht mal beizeiten die Helga fragen.

Oder auch nicht.

Ist auch schon egal.

 

Morgen: Hier ist Endstation