WUTBÜRGERIN

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Post cancrum natum – seitdem es die Krankheit in ihrem Leben gibt – sind Sabrina und Hans noch enger zusammen gerückt. Manchmal überlegen sie sogar, ob sie die Nächte wieder im selben Bett schaffen. Das lassen sie dann lieber sein. Sie schnarchen, sie sind im Schlaf gern mit sich allein. Zudem hat die nervöse Prostata den Hans zu einem unruhigen Nachtwanderer gemacht.

Natürlich nehmen sie sich ihre Auszeiten. Sabrina ist schwuppdiwupp verabredet mit einer Freundin, kommt dann mit einer letzten S-Bahn und einer schönen Schampus-Leichtigkeit zurück, er steht mit dem dem Wagen vor dem S-Bahnhof, trinkt einen Kaffee, der ihn um den Schlaf bringen wird, sieht besorgt den fremden Heimkehrern zu und ist so erleichtert, wenn sie aus der Unterführung auftaucht, dass er die verhaltene Eifersucht vergisst, die ihn tagsüber belästigt hat.

Natürlich hören seine Alleingänge nicht auf. Raus! Sich treiben lassen. Große Runde, kleine Runde, eine Stunde, ein halber Tag. Nachts in die Berge, aus der Dunkelheit in den Sonnenaufgang, rauf, runter, zurück nach Hause. Sie wird „War’s schön?“ fragen, er wird bejahend brummen.

Aber:

Es zieht sie mehr und mehr zum Anderen. Wenn sie einkauft, sitzt er in der Cafeteria und wartet, bis sie durch die Kasse ist. Wenn er im Garten werkt, hat sie auf der Terrasse zu tun. „Stör‘ ich Deine Choreographie“, gickert sie und steht ihm im Weg, wenn er kocht.

Sie wollen nicht ohne einander sein.

Könnte sein, dass die Zeit knapp wird.

Darüber redet man nicht, das hat sich so ergeben. Man spricht nicht darüber, dass einer sterben könnte. Das ist eine Angst, die sie mit sich selbst ausmachen. Als Sabrina operiert wird, wandert Krohn nächtelang mit dem doofen Katheter in der Büx durch die Felder. Als er in der Klinik ist, sitzt sie schlaflos im stillen Haus vor einem Bild, das sie vor Jahren begonnen und nie fertig gemalt hat. Die Farben und Pinsel liegen parat – aber Sabrina tut keinen Strich.

Man erzählt dem Anderen nichts davon, auf keinen Fall. Man tut so, als sei nichts. Nix sehen, nix hören, nix wissen wollen.

Vor ein paar Tagen waren sie zur Geburtstagsfeier eines Freundes eingeladen. Professor an der Uni, weiß alles über die Pharaonen, hat gerade seine Tochter unter die Haube gebracht, lebt mit seiner aparten Frau (Uni, weiß alles über die „Göttliche Komödie“) in großer Liebe zusammen.

Aber: chronische lymphatische Leukämie. Noch einen Geburtstag wird’s wohl nicht geben.

Er hat eingeladen und gemeint, man mache das diesmal anders. Zuerst werde Kuchen gefressen bis zum Anschlag, dann gebe es für die Bedürftigen wannenweise Alkohol. Beim Kuchen sei er der Anführer, mit den geistigen Getränken würde er sich zurückhalten müssen.

Es ist ein schönes Fest gewesen. Niemand hat dunkle Geschichten über Krankheiten oder wirtschaftliche Kümmernisse erzählt. Die Leute waren heiter und wollten lachen. Der Gastgeber sah zerbrechlich, aber wundervoll klug aus. Seine Frau: zum Anknabbern. Später fand sich auch die Tochter ein und erzählte strahlend, sie habe den ersten Ehekrach mit Bravour hinter sich gebracht („es war wie beim Papa und der Mama“). Man hat eine Stunde Anekdoten über die Streitbarkeit des Geburtstagskindes erzählt – da brauchte es keinen Alkohol, um in Stimmung zu sein.

Abends sind Hans und Sabrina aus der Stadt gefahren, sie hat ihre Hand auf seinen Oberschenkel gelegt und gesagt:

„Das war einer von den ganz schönen Tagen. Ich war so stolz auf uns.“ Er hat nach vorn gesehen und genickt. Ob es ihm gut gehe, hat sie dann gefragt.

Ja. Ja. Er habe sich Sorgen gemacht, weil die Feier so lang gedauert hatte. „Du musst grauslig müd‘ sein.“

„Geht schon. Vor allem bin ich glücklich.“

Er, froh, sagt nichts. „Willst wissen, warum ich glücklich bin? – „Willst es mir sagen?“ – „Ja. Kannst Du Dich erinnern, wie sich alle verabschiedet haben? Sie haben gesagt ,Bis zum nächsten Mal‘. Obwohl doch jeder gewusst hat. Es gibt kein nächstes Mal.“ – „Das sehe ich nicht so.“ – „Ach geh‘, ist auch egal. Auf jeden Fall habe ich das gemocht: Dass keiner vom Sterben geredet hat. Es reicht, wenn wir es denken.“

Hans hat genickt und wortlos nach Hause chauffiert.

Jetzt arbeiten sie sogar im selben Raum. Das Erdgeschoss ist Sabrinas Atelier, hell mit großen Bauernfenstern und einer verglasten Tür zum Garten hinaus. Die Künstlerin hat sich breit gemacht. Hier die Staffelei, da die Stellagen mit dem Werkzeug und den Utensilien. Unvollendetes lehnt in den Ecken, neben dem unbearbeiteten Holz und den Regalen mit den Kunstbänden. Sabrina hat sich aus Wien die Musikanlage kommen lassen, die sie bei einem Freund gelagert hatte. Dazu die tausend Schallplatten und turmhoch CDs. Zum Essen und Zeitunglesen geht sie in die Küche, ansonsten hat Sabrina alles, was sie braucht, in diesem einen Raum.

Und ins Nord-Eckerl – da wo früher der Herrgottswinkel war – ist Hans eingezogen. Er hätte eine schöne Studierstube im ersten Stock. Aber er mag es jetzt lieber an dem ehemaligen Esstisch – ausladend, zerarbeitet, von Zigaretten und Kerzen angekokelt, gehobelt und geschliffen die Zirbel, ein guter alter Kumpel aus damaligen Zeiten. Da kann er schreiben und lesen und ins Atelier schauen, ohne etwas zu tun.

Und sie ist immer da.

Kaffee in die große Schale, hellblau und hässlich und an einigen Stellen angeschlagen und gerade deswegen „seine“ Tasse. Viel Sahne dazu, fünf Süßstofftabletten, Zimt, Vanille, Kardamon. Umgerührt, drauf gepustet.

Ein echt schwules Getränk. Krohn liebt es.

Die Schale steht auf einem Manuskriptblatt – besser, das Papier kriegt einen Fleck als die greise Zirbel. Der letzte Satz auf dem Computer-Bildschirm steckt in der Mitte fest:

Nicht mehr weit zum Gipfel, er schätzte, in 15 Minuten würde er oben stehen – und dann

Hans hat ganz vergessen, dass er da noch einen Gedanken beenden muss. Er schaut Sabrina beim Arbeiten zu, es gibt nichts Wichtigeres.

Sie malträtiert mit Klüpfel und Beitel die Stelle, an der sie aus dem Ahorn die Hüfte einer Frau schälen wird. Noch kann sie sich wuchtige Schläge erlauben, das ist grad recht für ihre Wut.

Mit dem rechten Arm holt Sabrina weit aus, sie führt den Arm überkopf, trifft das Stecheisen, schnaubt, setzt zum nächsten Hieb an.

Dazu im Takt die Tirade einer zornigen Frau. Sabrina stößt die Wörter und Sätze keuchend heraus. Pro Schlag eine Anklage und ein Fluch-Wirbel.

„Ich“. Hieb. „lass mir das nicht gefallen.“ Hieb. „Was bilden“. Hieb…

„Ich“

!!!

„lass‘ mir das nicht gefallen.“

!!!

„Was bilden“

!!!

„die sich ein?“

!!!

„Krebs!“

!!!

„Und Du bist kein Mensch mehr.“

!!!

„Die werden“

!!!

„mich“

!!!

„ken“

!!!

„nen“

!!!

„ler“

!!!

„nen.“

Ob sie glaube, dass es ihr besser gehe, wenn sie ihren Ahornklotz zerdeppere, fragt Hans. Nicht dass es ihn störe. Nein, er findet es ziemlich sexy, wenn sie sich so echauffiert. Da braucht sie nur noch rote kniehohe Lackstiefel zu tragen, und er könne sich das Geld für die Domina im „Leierkasten“ sparen.

„Leierkasten, Leierkasten“, äfft Sabrina nach. Was solle das überhaupt sein, dieser „Leierkasten“?

„Das ist der nächste ordentliche Puff. Alles im Angebot. Lehrerinnen, Pfarrerinnen, kleine Mädchen, ganz normale Milfs, Dominas…

Genug! Sie will nichts mehr hören. „Ist doch egal, ob ich das Holz kaputt mache. Davor machen die mich kaputt. Ich habe doch keine Chance.“

Was sie damit meine: keine Chance? Auf wen sei sie wütend, wovor habe sie Angst, wolle sie das nicht näher erklären?

Und ob sie will!

Sabrina baut sich vor Hans Krohn auf – resch sieht sie aus in ihrem Overall. Knackiger Körper, rote aufgeregte Wangen, die Haare sind verwuschelt (man möchte gar nicht glauben, dass diese Frisur so verwuschelt sein kann, so sieht das nur nach lebhaftem Beischlaf aus, überhaupt sieht Sabrina aus wie eine Frau, die es gerade getrieben hat).

„Und ob ich will!“ wiederholt sie.

Sie wird ihm jetzt mal erzählen, was sie vom Krank-Sein hält.