WUNDERWIRTSCHAFT

„2017”*, Folge 65, 21. November. “Durchs Land”/VII.

 

München, ein silbergrauer eintönig geschlossener Himmel. Ab und zu spannen die Menschen ihre Regenschirme auf.

In der Nymphenburger Straße 16, Saal A 101 des Strafjustizzentrums, kriegt der Staat Saures.

Der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler fordert im NSU-Prozess Lebenslang für Beate Zschäpe. Der Mann kann ohne Punkt und Komma reden, er quatscht seine Gegenüber in den Irrsinn. Der Anwalt vertritt vor dem Oberlandesgericht München Angehörige von Abdurahim Özudogru und Ismail Yasar. Beide Männer sind von Zschäpes NSU-Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Nürnberg erschossen worden.

Daimagüler sagt, Zschäpe sei ein vollwertiges Mitglied des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gewesen. Sie war „Herrenmensch“ und hat sich als „Herrin über Leben und Tod aufgespielt“.

Dann nimmt Daimagüler Polizei, Verfassungsschutz und Bundesanwaltschaft aufs Korn. Sie hätten einen „mangelnden Aufklärungswillen“ Und es gebe einen weiteren „unsichtbaren Angeklagten: den Staat“.

Der Anwalt argumentiert wie seine Kollegin Edith Lunnebach. Sie hält den Anklägern unzureichenden Ermittlungseifer, eine Diskreditierung von NSU-Opfern und deren Angehörigen, Selbstgerechtigkeit und Unverschämtheiten gegenüber den Nebenklage-Anwälten vor.

„Große Strafprozesse schreiben doch immer ein Stück Geschichte“, sagt sie. „In der Rückbetrachtung werden Sie sich in der Rolle des Bremsers wiederfinden.“

Mehmet Daimagüler ist der Sohn türkischer Gastarbeiter, hat ein Einser-Abi gebaut. Bei der FDP schaffte er es in den Vorstand, für sein Engagement hat er Wirtschafts- und Juristenpreise bekommen. Ein harter Kämpfer ist er, mittlerweile elegant ergraut, trägt gerne gut geschneiderte Sakkos in Blautönen.

Nur manchmal, wenn die Kameras ausgeschaltet sind, lässt Daimagüler sich gehen. Dann sieht er aus wie einer, der bald aufgibt.

Aber er lässt sich nicht klein kriegen. Mehmet Daimagüler hat einen Bestseller geschrieben, mit dem Titel „Kein schönes Land in dieser Zeit – das Märchen von der gescheiterten Integration“ – wer mit dieser Erkenntnis durch die Tage gehen will, muss eine Vokabel besonders oft benutzen:

Trotzdem!

Über seinen Einsatz in der Nymphenburger Straße hat der Anwalt geschrieben:

„Erschreckender als all das in der Vergangenheit Geschehene ist die Gegenwart im Münchner Gerichtssaal: Hier agiert eine Bundesanwaltschaft, die der Frage nach dem Wie mit Apathie oder Destruktion begegnet. Die Bundesanwaltschaft als Anklägerin ist eine politische Institution, denn sie handelt unter Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der Justiz. Die Spitze unseres Staates, vom Justizminister bis zur Bundeskanzlerin, hat volle Aufklärung versprochen. Allerdings tut die Bundesanwaltschaft wenig, um dieses Versprechen einzulösen.

Sie findet es normal, dass ein Neonazi-Zeuge mit einem Anwalt auftaucht, der vom Verfassungsschutz ausgewählt und bezahlt wird. Nicht die Kaltschnäuzigkeit einer Beate Zschäpe macht mich fassungslos, sondern die Dreistigkeit einer Bundesanwaltschaft, die behauptet, der NSU-Komplex sei „ausermittelt“.

Das Bundesinnenministerium hat erst vergangenes Jahr zugegeben, dass mehr als 700 offene Tötungsdelikte einen rechtsradikalen Hintergrund haben könnten. Wieso tritt die Bundesanwaltschaft nicht mit mehr Demut auf?

Ich bekomme viele Schreiben, Mails, Briefe, Anrufe. Manchmal Briefe ohne Briefmarken, unter meiner Wohnungstür durchgeschoben. Die einen wollen mir in den Kopf schießen, die anderen mich öffentlich verbrennen, manche kommen auch ohne Gewaltfantasien aus. Aber was sie alle sagen: Du bist anders, du bist kein Deutscher, du bist Türke, du wirst nie zu uns gehören.

Ich will nicht wütend sein, aber ich bin es. Ich weiß, ich habe in Deutschland keine Heimat, jedenfalls keine selbstverständliche wie meine deutschen Freunde, allenfalls eine Heimat bis auf Weiteres.

Auf Polizei und Justiz kann ich im Zweifel nicht zählen.

In Deutschland geboren, eine Eins im Deutsch-Abi? Hat nichts zu bedeuten.

Ich bin Türke, mit einem deutschen Pass.“

Als Hans Krohn den Saal verlässt, hat er Bauchweh. Zurück im Hotel Fortsetzung der Gedanken über den Vater.

 

Als Kind hatte Sebastian gern für seine Geschwister aus Ästen und Brettchen kleine Häuser oder Krippen oder Kirchen gebaut. Er war da sehr erfinderisch gewesen. Manchmal musste er erklären, worum es sich handelte – um einen Bauernhof, einen Stall, einen Brunnen. Aber er erzählte seine Version mit einer solchen Begeisterung, dass die Geschwister die Legende gern übernahmen.

Nun kam ihm die Bastelei der frühen Jahre zugute. Im Architekturbüro war Sebastian Krohn nach kurzer Zeit die rechte Hand des Chefs, weil keiner so begeistert und mit Liebe fürs Detail die Modelle baute wie er.

Krohn kümmerte sich nicht um Bürozeiten. Wenn die Kollegen morgens kamen, stand er schon am Zeichentisch oder an der Werkbank. Nach Feierabend hängte er noch eine Stunde dran – danach ging’s zum Training. Sonntags brütete er, wenn alles in der Kirche war, über Entwürfen, er sägte, feilte, leimte. Nachmittags stand er auf dem Eis, im Sommer machte er mit Eve einen Ausflug.

Er hatte nicht viel Zeit für sie. Er wollte seine Chance im Büro nicht versieben – und Eve bestärkte ihn. Sie kümmerte sich bald schon um seine Wäsche, hörte lächelnd zu, wenn er von seinem neuesten Einfall oder seinem Chef schwärmte. Er lag dann auf dem Rücken, hatte den Kopf in ihrem Schoß, sie kraulte ihm die Haare und war sehr froh.

Sie schliefen gern miteinander.

„Sie brauchen keine Zeugnisse“, sagte der Chef. „Sie haben den Beruf im Blut.“ Krohn bezog ein kleines Kabuff – es war in der Tat winzig, ein Abstellraum ohne Fenster – direkt neben dem Büro vom Chef. An allen größeren Projekten war er beteiligt, zuerst führte er Buch und erledigte die Ämtergänge, bald zeichnete er die Entwürfe des Chefs ins Reine, und es dauerte nicht lange, bis er zu den Geschäftsessen mitgenommen wurde. Er redete nicht – außer ein Kunde liebte Eishockey und wollte Interna über den Verein wissen.

Das Gehalt wurde aufgestockt. Krohn kam vier Monate nach Düsseldorf, wo er in einem renommierten Büro Großstadtluft schnuppern sollte. Er las nur noch Fachliteratur, lernte ganze Bildbände auswendig.

Sebastian Krohn hatte kaum Zeit zum Schlafen in diesem Düsseldorf. Das MAN-Hochhaus. Die Thomaskirche in Mörsenbroich. Die Hansaallee 65 mit dem sternförmigen Grundriss und den runden Balkonen. Die Tonhallenstraße 10mit der bauchigen Fassade. Das Dommel-Hochhaus und das Horten, Mannesmann und Amerikanisches Generalkonsulat…

Besoffen vor Gucken war Sebastian Krohn. Diese verspielten Fassaden, die nüchternen kühnen Häuserfluchten. Lichte Plätze, verspielte Tram-Haltstellen, nostalgische 30er-Jahre Einfamilienhäuser. Bauhaus-Kopien mit viel Glas.

Kräne, Planierraupen, Gerüste, halbnackte Handwerker, Gaffer an Bauzäunen, Millionengeschäfte im Büro, Zeichnungen auf Millimeterpapier-Bögen, die so groß waren wie ein Eishockeytor…

Anfangs haben ihn die Düsseldorfer noch belächelt, diesen jungen Mann, der immer rote große Ohren bekam, wenn er eifrig wurde. Einen drolligen Akzent brachte er mit, er konnte das nicht verheimlichen.

Aber schon nach kurzer Zeit nahmen sie den Besuch aus Bayern ernst. Der junge Mann schnappte etwas Neues auf und ließ dann nicht locker, ehe er alles richtig verstanden hatte. Er zeichnete meisterlich, hatte keine Scheu vor der Kundschaft, er konnte seine Ideen verkaufen.

Der Inhaber des Büros machte sich rar. Krohn hatte ihn bisher nur an seinem ersten Tag kennen gelernt. Der ältere Herr mit dem Schnauzbart, dem Schal und dem Anzug mit Weste hatte ihn verschüchtert.

Die vier Monate waren fast vorbei, als Krohn ins Büro vom großen Eigenrauch bestellt wurde.

„So, Sie verlassen uns ja bald, habe ich gehört“, knurrte der große Eigenrauch und blickte zum Fenster hinaus auf die Rheinwiesen. Er drehte mal leicht nach links, dann wieder leicht nach rechts in seinem Le Corbusier LC7, die Füße hatte er auf einem mit schwarzem Leder bezogenen Hocker abgelegt. „Wieder nach Bayern, nicht wahr?“

„Ja, nächste Woche muss ich zurück.“

„A propos ,müssen‘ – könnten Sie sich vorstellen, hier zu bleiben?“

„Wie meinen’S des?“

„Wir haben Sie beobachtet. Guter Mann. Aus Ihnen wird was. Ich würde Sie gerne einstellen.“

„Aber.“

„Wäre alles geregelt. Ich habe mit meinem Freund in Bayern gesprochen. Er legt Ihnen keine Steine in den Weg. Zeugnisse brauche ich nicht, ich weiß, was Sie können. Über das Geld werden wir uns schon einig. Und einen Eishockeyverein haben wir hier auch. Also, was ist?“

Jetzt waren Sebastian Krohns Ohren puterrot.

„Ich sehe schon, das wird was. Gehen Sie zum Herrn Rick, der macht mit Ihnen die ganzen Vertrags-Geschichten. Der weiß sicherlich auch was zum Wohnen für Sie. Nächste Woche fangen Sie an. Jetzt haben Sie frei – fahren Sie nach Bayern und holen Ihr Zeug. Ich baue auf Sie.“

Benommen tappte Krohn aus dem Büro. Das musste er Eve beibiegen. Würde nicht ganz einfach. Sie hatte beim letzten Telefonat etwas von „Heiraten“ und „was Kleines“ geredet. Er hatte nicht viel Kleingeld gehabt, deswegen war das Gespräch zu schnell zu Ende gewesen.

Doch Krohn ahnte was. Das war jetzt blöd.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.