DAS FORTKOMMEN

„2017”*, Folge 64, 20. November. “Durchs Land”/VI.

 

München. Nebel am Morgen. Blauer Himmel tagsüber, abends ziehen von Osten lockere Wolken auf. Kalt ist es.

Es ist der Tag eines großen Fröstelns. In Berlin haben sich große Parteien nicht über gemeinsame Ziele einigen können. Die „Jamaika-Koalition“ von Grünen, FDP und Union ist „geplatzt“, das Land hat noch immer keine Regierung; es sind beunruhigende Nachrichten aus der Hauptstadt.

Aber schon bald juckt die Münchner nicht mehr so recht, was in Berlin passiert. Sie haben ihren eigenen Gesprächsstoff.

Die CSU steckt in der Krise. Der Ministerpräsident ist angeknockt, viele rechnen damit, dass er in die Knie geht.

Im „Deutschlandfunk“ erklärt einer: „Seehofer sei eine ,lame duck‘, ein ,walking dead‘.“

Ja, so sagen die Leut‘ im Land, jetzt geht es dem Landesvater echt nass nei. Kacke am Dampfen. Misthaufen am Stinken. Seehofer am Fallen. Die dpa meldet:

„Jetzt kommt der CSU-Chef ganz persönlich mit leeren Händen zurück nach München, zurück zur Basis, die nach dem verheerenden Ergebnis bei der Bundestagswahl ohnehin seit Wochen in Aufruhr ist. Was bedeutet das Jamaika-Aus für die CSU und für den 68-jährigen persönlich? Das ist zurzeit kaum absehbar.

Zwar kann Seehofer jetzt immerhin betonen, keine falschen Kompromisse eingegangen zu sein. Doch eigentlich steht der 68-jährige vor einem Scherbenhaufen: Um seine Nachfolge als Ministerpräsident tobt schon seit Wochen ein erbitterter Machtkampf, inzwischen muss man fast schon von einer Schlammschlacht sprechen.“

Nun hat Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner ihren Auftritt im Intriganten-Stadl an der Isar gehabt. Sie brachte im Gespräch mit Parteifreunden eine Urwahl des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl und sich selber als Bewerberin ins Spiel – und es geht weiter, das große Raufen.

Aigner kann sich vorstellen, die Parteimitglieder abstimmen zu lassen, sie würde dann selbst kandidieren. Der Mann, dem das nicht in den Kram passen würde, heißt Markus Söder und will Seehofer stürzen. Jetzt kommt die Aigner mit einer Urwahl daher und will selbst kandidieren – nein, das ist gar nicht lustig. Von „Verzweiflung in der Prätorianergarde“ schreibt die „FAZ“.

Am Wochenende hat’s die ersten Watschn gesetzt. „Jetzt sind wir nicht besser als die SPD. Wir zerstören uns selbst“, sagt Oberbayerns Junge-Union-Chef Daniel Artmann, ohne sich aber inhaltlich hinter Aigner zu stellen. Staatskanzleichef Marcel Huber, der sich aus den Partei-Kämpfen am liebsten raus hält, verlangt mehr „Teamgeist, Respekt und Fairness. Es nützt nichts, wenn wir so weiter machen. Da werden schwere Geschütze aufgefahren, die zeigen, wie tief die Gräben sind.“

Zeit ist es, dass der Chef aus Berlin zurück kommt. Sonst gerät die Sache in Bayern aus dem Ruder.

In der „Süddeutschen“ vom Wochenende beschreiben „Experten“ in einer Mischung aus Grusel und Ekel:

„Das Drama strebt seinem Höhepunkt entgegen. Für den letzten Akt treten die Helden bald auf die offene Bühne. Wer hat die besseren Nerven? Wer kann mehr Schmerz erdulden? und, nicht unwichtig bei der CSU: Wer schlägt tiefer? Am Ende steht ein Moment der Stille. Das CSU-Orakel schreibt: ,Keine Sorge das ist die Ruhe vor dem großen Sturm.‘“

Nachmittags – blauer Himmel, Menschen mit Mützen – besucht Krohn seinen Verleger. Der ist enttäuscht, dass die Visite nicht zum Gelage wird. Man redet über Fontane, Caspar David Friedrich und das öffentliche Verrotten von Politiker-Gesichtern.

Als Krohn den Verlag verlässt, dämmert der Tag weg. Ein blöder Tag, denkt Krohn und ist bedrückt, obwohl doch alles läuft bei ihm.

Im Hotel Fortsetzung der Gedanken über den Vater.

 

„Sissi“. „Ich denke oft an Piroschka“. „Die Deutschmeister“. „Des Teufels General“. „Schwedenmädel“.

Lieselotte Pulver. James Dean. Romy Schneider. Curd Jürgens. Cary Grant. Marilyn Monroe.

Eve beschloss: Du gehst mit! Und Sebastian Krohn entdeckte das Kino. Er saß mit ihr in der letzten Reihe und vergaß zu knutschen. Der Hauptfilm begann, und die Welt wurde unermesslich groß für den jungen Mann aus dem Kaff im Allgäu. Er war nicht mehr der ungebildete Postbote, der wegen des Kriegsendes nicht mal einen ordentlichen Schulabschluss machen hatte können. Nur noch neugierig war er und fühlte, dass er in diese Welt gehörte.

In die Welt der unerreichbaren Monroe und des rebellierenden James Dean. In die Welt der Scheinwerfer und der scheinbar-Unbekümmertheit. Auf die Leinwand, vor die Kamera, in die Zeitung.

Da musste er hin.

Eve lachte ihn nicht aus. Wenn er tagträumte, was er unternehmen müsste, um das Briefträger-Leben hinter sich zu lassen, hörte sie ihm lächelnd zu und strich über seine blonden, immer noch etwas zu langen Haare. Er sah dann ganz besonders aus. Wie einer, der Hunger hat und von gebratenen Gänsen spricht, die ihm ins Maul fliegen werden.

Sie trafen sich nun regelmäßig an den Wochenenden. Wanderten durch die Alpen und übernachteten im Schober. Zählten die Pfennige und leisteten sich dann ein Eis. Legten immer etwas fürs Kino zurück.

Eve nahm ihn zu ihren Freunden mit. Er lernte Sekretärinnen und Skifahrerinnen auf Hochzeiter-Suche kennen, er traf Buchhalter und Söhne, die bald das Geschäft der Väter übernehmen würden. Er sah den Erfolgreichen in der Clique aufmerksam zu. Alles registrierte er und bearbeitete sich:

Er zog sich an wie einer, der es zu etwas bringen wollte. Tischmanieren lernte er. Er machte den Fräuleins den Hof. Das funktionierte immer besser, denn er hatte jederzeit neuen Gesprächsstoff (Krohn las wie ein Verhexter, einmal in der Woche tauschte er einen Armvoll „fertiger“ Bücher in der Stadtbibliothek gegen neue aus).

Er war ein sympathischer Kumpel. Einer, der es mit allen konnte. Zwar mochte Krohn den James Dean aus „Denn sie wissen nicht, was sie tun“, doch er selbst hatte es nicht mit dem Unangepassten.

Manchmal fingen Eves Freunde an, über Politik zu diskutieren. Sie redeten sich die Köpfe heiß, Sebastian sagte kein Wort. Wenn er eine Meinung hatte, behielt er sie sorgsam für sich.

Stille Töne. Freundlich, immer freundlich. Hilfsbereit. Ein Zuhörer. Eves Freund.

Man mochte Sebastian Krohn.

Er setzte sich selbst geschickt und unvermerkt ins rechte Licht. Anfangs half ihm da der Sport. Sebastian spielte mittlerweile beim Oberligisten Füssen, und manchmal brüllten 15000 im Kobelstadion seinen Namen, wenn er sein Tor schön sauber hielt.

Der Sportverein war seine Chance. Es kam der Tag, an dem nach dem Training der Präsident den Torhüter Krohn abpasste.

„Sag‘ Basti, Du bist Briefträger, gell?“

„Ja, warum?“

„Ich hab‘ da vielleicht was für Dich. Ein Freund von mir braucht jemanden in seinem Büro.“

„Aber…“

„Ich weiß schon, Du hast keine Zeugnisse. Brauchst nicht, fürs Erste. Stellst Dich amal bei meinem Freund vor. Dann sieht man weiter.“

„Gut. Dankschön.“

Krohn ging zu dem Mann. Es war ein Architekt, mit Büro am Marktplatz. Sebastian Krohn war ein wenig scheu, wie er da in einem tiefen Gestühl auf den Chef wartete. Wie ein Schülerbub im zu engen Anzug kam er sich vor.

Die Sekretärin öffnete die Tür und sagte, der Chef habe jetzt Zeit.

Krohn trat ins weitläufige Zimmer mit dem wuchtigen Schreibtisch und den Büchern, die aus drei Wänden wuchsen. Die vierte Wand war eine Fensterfront zum Marktplatz.

Es roch nach Zigarre, in der Mitte des Raums war das Holzmodell eines großen palastartigen Gebäudes aufgebockt. Auf dem Schreibtisch stand ein Cognacglas, der Herr Architekt bot seinem Besucher auch einen an.

Gerne. Zigarre, nein danke. Der Sport.

Der Herr Architekt nickte wohlwollend. Er hatte einen Bauch, über dem die Weste spannte.

Was für eine wohle Welt!

Das war’s.

Hierhin wollte Krohn.

 

*“2017“ beginnt in der Kalenderwoche 38 des Jahres 2017 und endet am 31. Dezember. Thema: 105 Tage Deutschland. Unterwegs in der „Heimat“.