ÜBERN BERG?

brenner, im november 2016   —   ÜBERN BERG, die Vierte

 

„Das ist die längste Gerade meines Lebens“, murmelt der Musiker Fabian. Er atmet schwer und blickt hilfeheischend in die Sterne.

Fabian geht – Sterzing hat er vor einer halben Stunde passiert – zwischen Gittern südwärts. Rechts liegt verlassen die Autobahn, nur ab und zu rauscht ein LKW durch die Nacht. Der Eisack kullert linkerhand in Richtung Bozen. Im Licht der Stirnlampe schillern die ersten Eisschollen am Ufer – bald wird der Fluss zugefroren sein.

Der Musiker Fabian hat das Marschieren satt. Aber das Land ist unwirtlich im November um halb drei in der Früh. Hier wird Fabian bis zum Morgengrauen seinen privaten Kampf gegen die störrische Natur fechten müssen.

Hier ist man es gewöhnt zu kämpfen. Wie hat es der Nationalheld Andreas Hofer am 13. August trutzig heraus gestoßen?

„Seid’s beinand, Tiroler? Nachher gehen mer’s an. Die Mess‘ habt‘s g’hert, enkern Schnaps habt’s trunken, also auf in Gott’s Nam!“

Sie haben gekämpft und sich die Nasen blutig gestoßen. Der Hofer Andreas ist später wegen seiner Starrsinnigkeit hingerichtet worden, die Tiroler haben ihm die Volkslieder im Akkord gewidmet.

“O trauervolle Zeit,

was wird aus mir noch werden!

Der Befehl ist schon bereit:

erschossen muss ich werden,

es ist schon lang bekannt

wohl in dem ganzen Land.“

 

Sie verehren den Andreas Hofer in seiner Heimat. Weil er sich gewehrt hat. Weil er gekämpft hat. Weil er für seine Überzeugung “übern Berg” marschiert ist. Auch wenn’s das Leben kostete.

Aber diese Flüchtlinge, die sich über den Berg in eine bessere Zukunft wurschteln wollen – die wollen sie nicht in Tirol. Und da sind sie den “Spaghettis” auch dankbar, wenn die ihnen helfen, das Land sauber zu halten.

Der Zöllner Sibillo Gennaro zu Beispiel hat bei seinen Kollegen aus dem Norden einen Stein im Brett, weil er diese Afghanen aus dem Verkehr gezogen hat.

Vor Kurzem hat er mit seinen Leuten zuhause telefoniert. Natürlich hat er auch die Geschichte mit dem Afghanen erzählt. Die Mama hat gesagt, dass man stolz auf ihn ist. Die Sache mit den Leuten aus Afrika und so sei wie eine Seuche.

„Wir können sie hier nicht brauchen. Ist traurig, was mit denen passiert“, sagte die Mutter. „Aber wenn wir die in den Ort lassen, kommen die Fremden nicht mehr. Und dann haben wir nicht mehr lange und sind arm wie die Griechen.“

Dann fragte sie ihn, wie es ihm denn so ginge im Norden. Ob er sich schon an alles gewöhnt habe?

„Ach Mama, daran kann man sich nicht gewöhnen. Es ist kalt, sie kochen schlecht, sie sind unfreundlich. Ich bin froh, wenn das vorbei ist hier.“

Und die Flüchtlinge? Ob er große Scherereien mit denen habe? Man höre, dass es ziemlich wild zugehe am Brenner.

Nicht so schlimm, sagte Gennaro. In den Zeitungen würde viel Mist geschrieben, und denen vom Fernsehen muss man auch nicht alles glauben. „Sie versuchen es jeden Tag, ich glaube, viele schaffen es auch. Aber bei Kontrollen haben wir immer wieder Glück. Das sind arme Schweine.“

„Sie hätten eben in Afrika bleiben sollen.“

„Ach, es sind doch nicht nur die Afrikaner. Sie kommen aus dem Irak und Afghanistan und überall her. Wir verstehen sie ja nicht einmal.“

„Naja, Junge, das soll nicht Dein Problem sein. Schau‘, dass Du die Zeit gut rum bringst – und dann komm‘ nach Hause. Der Norden ist nicht gut für Dich.“

„Ja, Mama, hast ja Recht. Ich freue mich ja auch, wenn es um ist.“

 

 

Ist ein Scheiß-Job, oben auf dem Pass. Gennaro ächzt wie ein Alter, als er aufsteht. Zeit, zum Dienst zu erscheinen. Er sieht rüber zu seinem Schicht-Kollegen. „Alles klar“, sagt der, „genau! Pack ma`s!“

Sie gehen also über den Platz zur Grenzstation. Ziemlich lange Schlange nach Italien hinunter. Das wird kein lockerer Dienst.

Cielo grìgio. Nein, das ist kein helles Grau, das suppt schon ins Schwarze. Keine Wolken, nur eine tiefdunkle Decke über den Bergen.

„Sag‘ amal“, fragt der Kollege, „des war ein ganz ein Junger, der Flüchtling, oder?“

Gennaro nickt.

„Und? Wie hat er ausgesehen?“

Gennaro Sibillo, der Polizist aus dem Süden, bleibt stehen.

Wie er ausgesehen hat? Was für ein Bild ist geblieben?

Come una bestia intimidata. Wie ein verschrecktes Tier.

Da hinten in der Ecke von dem Lieferwagen. Wie ein kleines Tier mit großen Augen.

An mehr kann sich Gennaro nicht erinnern.

Oder doch: Gezittert hat es, das Tier. Die ganze Zeit gezittert.

Gennaro war ziemlich erleichtert, als er den Mann nicht mehr anschauen musste, weil sie ihn weg brachten.