THE FACE

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN. 

Krohn notiert, 7. August

Sabrina erwischt mich hinten am Gemüsebeet. Ich betrachte die Zucchini, die sich in diesem Jahr mächtig aufgeblasen haben. Als wir operiert wurden, waren sie die „Schläfer“ des Gartens. Ein paar Blüten, zaghaftes Sprießen – nichts, was auf die Explosionen in diesen Tagen hingedeutet hätte.

Jetzt wachsen sie sich zu Ungetümen raus. Ich drücke sie: richtig stramme Burschen! Dann gucke ich wieder blöde aufs Gemüse.

In diesem Zustand erwischt mich Sabrina.

„Was machst Du?“

„Ich überlege, wie wir das alles verarbeiten. Einmachen. Grillen. Lasagne. Irgendwas Neues versuchen.“

„Mach mir nichts vor. Darüber denkst Du nicht nach. Was ist es?“

Nichts, erkläre ich und hoffe, dass das Thema durch sei. Nichts da. Sabrina will’s wissen.

Also gut, wir gehen zum Haus und setzen uns auf die Bank unterm Küchenfenster. Die Wolken vom frühen Vormittag haben sich aufgelöst, ein paar Flusen treiben sich noch herum – ansonsten heizt die Sonne das Land auf, es wird ein flirrender Sommertag werden. Sabrina hält das Gesicht ins Licht, die Augen hat sie geschlossen. 

„Was ist es, Hans?“

Der Mauerlauf spukt mir im Kopf herum. 

„Angst?“

Nein, es ist keine Angst. Aber ich werde nervös. „Du weißt, dass ich sowas oft gemacht habe. Aber so, wie ich diesmal dort antrete, ist es eine Premiere.“

Sie lässt mir die Pause, ich rede weiter:

Ich sei nicht vorbereitet. Wie auch? Ein halbes Jahr nicht trainiert, erst seit drei Wochen kann ich wieder joggen. Keiner sollte in diesem Zustand 160 Kilometer am Stück laufen wollen, das sei unsinnig. „Das ist Realitätsverweigerung.“

Warum ich es dann mache?

„Ich habe mir das vorgenommen. Als es mir ganz beschissen ging, habe ich mir gesagt, dass es da nicht um eine Sportveranstaltung geht, sondern um das Einlösen einer Vereinbarung.“

Blödsinn.

„Ja, Du hast Recht. Aber ich komme aus der Nummer nicht raus. Ich muss das machen. Und jetzt, wo ich die Tage zählen kann, werde ich nervös. Wenn ich da raus gehe, muss die Einstellung stimmen.“

Das heißt?

„Ich werde dort – wenn überhaupt – der Letzte von den Letzten sein. Vielleicht wird es anstrengender als alles, was ich bisher gemacht habe. Ich weiß es nicht – das ist Neuland und könnte einem Sorge machen.“

Sie sieht mich an, abschätzend, abschätzig, spöttisch, freundlich. „Es kommt also nicht in Frage, dass Du absagst?“

„Nein.“

„Was machst Du denn dann mit den komischen Sorgen.“

Ich nehme sie an der Hand und gehe mit Sabrina an meinen Computer. Dort habe ich auf der „Transcontinental“-Seite einen Bericht über Fiona Kolbinger gefunden. Die kommt aus Heidelberg, ist 24 und hat gerade das härteste Radrennen der Welt gewonnen. 4000 Kilometer in zehn Tagen von Ost nach West durch die Alpen. Kein Begleitfahrzeug, kein Mechaniker; der Athlet ist allein auf sich gestellt. Fiona Kolbinger alle 24 Stunden 400 Kilometer gefahren, hat vier bis sechs Stunden pro Tag geschlafen. Im Straßengraben hat sie übernachtet, in Heuschobern, in Absteigen. Als erste Frau überhaupt hat sie dieses Rennen gewonnen, der Zweite kam zehn Stunden nach ihr ins Ziel. Als sie geduscht und ausgeschlafen war, sind die meisten noch auf der Strecke. Heute gurken gar zwei Nachzügler noch in Österreich durch die Berge – da fährt Fiona schon bei der Zielstadt Brest spazieren.

Es gibt viele Renn-Fotos von ihr. Im Anstieg zum Galibier. Beim Reparieren eines Defekts. Beim Essen auf Rädern. Beim Gespräch mit Zuschauern. Immer lacht sie, immer ist sie freundlich und entspannt. Einmal freilich ist sie die personifizierte Konzentration. Das ist in einem französischen Hotel, in dem sie sich auf der Durchreise melden muss. Sie hat gefuttert und geduscht, etwas Frisches angezogen, gleich muss sie wieder aufs Rad.

Da sieht sie ein Piano und und setzt sich dran. Sie spielt Klavier – dabei müsste sie Kilometer machen. Sie ist entrückt und verzückt. Verliert eine Viertelstunde Rennzeit – aber sie lädt sich auf mit den Tönen, die sie auf den nächsten hunderten Kilometern begleiten werden.

Ich habe, sage ich zu Sabrina, das Gesicht lange angesehen.

„Ich will dieses Gesicht auswendig lernen. Da drin steckt das Leben und das Überleben.“

Sabrina umarmt mich. Sie wird nicht mehr nachfragen.