HAARIGE LIAB

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

Krohn notiert, 6. August

Das Glockenspiel vom Marienplatz gibt Ruh’, es ist zehn nach elf. Die Statthalterinnen vom „Bücher Lentner“ haben nichts zu tun. Dann – man hat es gar nicht gemerkt, wie er durch die Tür geschlüpft ist – steht der alte Herr aus Tutzing im Verkaufsraum. Er ist klein und verhutzelt, ein wirklich alter Mann, den die Jahre gebeugt haben. Aber junge Augen hat er und rote Backerl.

„Griaß Gott, de Damen.“

„Ja, jessas, Sie hom ma scho lang net gseng. Wie geht’s Eahna denn?“

Gut sei er beieinander, antwortet der alte Herr. Obwohl ihm das Wetter dieser Tage ein wenig zu schaffen mache.

„Ja, gell, es is so dämpfig. I war grad im Lager. I hob gschwitzt, des war nimma schee.“

Ja, sagt er, aber man müsse es nehmen, wie es komme. Ob denn seine Gattin noch nicht da sei?

Nein, noch nicht gesehen.

„Mei des ist ein Kreuz mit den jungen Madln. Allweil zu spät.“

Die Damen vom „Lentner“ kichern.

Aber nicht lang, dann weht sie herein. Sie trägt eine gesteppte Weste, einen dreiviertellangen luftigen Rock, hat die feinsten Schuhe, das dezenteste Make Up – beim Friseur, einem guten seiner Zunft, ist sie obendrein gewesen.

Schick sieht sie aus.

„Da is ja mei Madl.“

„Geh zua! Du wieda!“ Kokett ist sie auch noch.

Er hat ihr etwas gekauft. War im Sonderangebot. Ovid. „Amores – Ars amatoria“.

Warum denn dieses Buch, fragt sie. Das habe er doch zweimal – so erinnere sie sich – im Regal.

Es sei für sie gedacht, sagt er, nur für sie.

Die Frau hebt die Augenbrauen. Jetzt ist sie weit über die 70 und schon seit gutding 50 Jahren mit ihm verheiratet – und er ist immer noch der alte Spinner.

Die Beiden sind gut bekannt hier im Laden. Seit Jahrzehnten kaufen sie hier ihre Bücher (und das sind viele gewesen im Lauf der Zeit). Da lernt man sich kennen:

Sie wohnen in Tutzing und haben von dort aus ein großes Unternehmen für Arbeitskleidung geführt. Sie sind wohlhabend, mit Villa und Dienstleuten und Chauffeur. Haben immer ein Faible fürs Kulturelle gehabt. Grad waren sie bei den Festspielen in Salzburg und Bayreuth, sie stiften viel für Konzerte und Lesungen, haben teure Kunst gekauft.

Und Bücher: nur beim „Lentner“. Traditionsbewusster geht es nicht in Bayern.

Aber muss das sein, dass er den Ovid nochmal kauft?

Ja, ihm war danach. Seine beiden Exemplare seien zerfleddert und zerlesen. Und ihm sei eine Textstelle durch den Kopf gegangen, die er seinem „Madl“ zueignen wolle.

Ja, wie jetzt das?

Nun er habe unten im Tal in der Wirtschaft gesessen und das zweite Schneider Weizen getrunken (gegen die Hitz’, verstehst?). Und wie man weiß, kommen einem Mannsbild nach dem zweiten Bier die besten Ideen. Da saß er also nun und wartete auf sein Bier Nummer drei – „und da hab’ i denkt, dass mei Madl jetzt beim Friseur is. Nicht, dass ich’s Dir nicht vergönnen tät’, aber brauchen tut es das nicht. Du bist so schon schön für mich.“

Ja, und da sei ihm der Ovid eingefallen.

Der Alte blättert im Buch. Da! Da ist es.

„Ich lese es Dir vor. Soll i Lateinisch wern?“

Nein, um Himmels willen. Ovid auf Deutsch reiche völlig.

„Eine Sünde“, rief ich, „eine Sünde ist es, dieses Haar zu brennen. Fern sei alle Gewalt! Es ist von Natur aus schön, Du Herzlose, schone Dein Haupt. Dieses Haar ist nicht so, dass es gebrannt werden müsste. Das Haar selbst lehrt die Nadeln, ihren Platz zu finden.“

„Ein alter Depp bist“, sagt sie, mit ganz weicher Stimme. Nimmt das Buch entgegen und ist ganz froh mit der Welt.

„Habe die Ehre, die Damen“, sagt er und führt seine Frau ins umtriebige München. Im „Franziskaner“ haben sie reserviert.

Weg sind sie. Es ist wieder still im Laden.

Die „Lentner“-Frauen lächeln still.

„Süß!“ sagt die Eine.

„Ja“ sagt die Andere.

„Süß!“