SCHEISS-KINÄSN

ENDSPIEL 18

Alois blinzelt in die Sonne, die mittlerweile überm Hilton steht. Zeit, für heute den Laden zu schließen. Er verstaut den Stift, trinkt den restlichen Wein, wirft die Flasche mit Schwung in die Isar, sieht ihr beim Davontreiben und Untergehen zu. Anschließend lehnt er sich zurück und liest das Geschriebene durch.

Hohenleitner ist recht zufrieden mit sich. Er hat die Geschichten so erzählt, wie sich wohl zugetragen haben. Er selbst findet jedenfalls keine groben Unwahrheiten.

„Lügen brauch‘ ich nicht mehr“, sagt er. Das hat er sich so angewöhnt: Wenn er angeschickert ist und ihm etwas Wesentliches durch den Kopf geht, spricht er es aus. Dass er damit manchmal etwas wunderlich wirkt, juckt ihn nicht. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an.

Er klappt  den Block zu, wickelt ihn sorgsam in eine Plastiktüte. Er muss sich etwas einfallen lassen, damit ihm das Buch nicht zerfleddert. Früher hat er es kommod gehabt – alle Notizen kamen in eine Moleskin-Kladde; die war unverwüstlich. Jetzt muss er sich wegen der Vergänglichkeit eines Blocks Gedanken machen. So weit ist es gekommen.

Nun ja, ihm wird schon was einfallen.

Die Tüte ist gepackt, Alois macht sich auf den Weg. Er klimmt zum Uferweg hinauf, marschiert flussaufwärts. Jetzt könnte er über die Brücke nach Schwabing wechseln, dann wäre er in einer Viertelstunde bei den Freunden.

Er bleibt stehen, hört dem Rauschen des Verkehrs auf dem Ring zu und sinniert.

Die Freunde werden ein wenig enttäuscht sein, wenn er mit leeren Händen ankommt. Er hat noch zwei Flaschen Bier, aber die werden in den nächsten Minuten verdunsten. Hohenleitner hat mächtig Durst.

Er könnte natürlich das Bier gemütlich auf einer Bank in dem kleinen Park trinken, in dem er gern mit den Frauen beim Piccolo gesessen hat, damals in seiner besseren Bogenhausener Zeit. Und dann – er hat ja noch Barschaften – würde er beim Rewe…

So macht er es. Zufrieden hockt er in der Nachmittagssonne und nimmt ein Feierabend-Bier. Danach geht es in den Supermarkt, Hohenleitner kauft – er hat sich dazu wieder das obligatorische Tuch um Mund und Nase gebunden – für die Freunde und sich und den Abend ein.

Vor dem Geschäft lädt eine alte Dame ihre Einkäufe in einen antiken Benz. Sie hat weißlila gefärbte, vom Spray glänzende Haare, trägt eine teure Steppjacke und einen Rock mit Schottenkaro-Muster. Zornige Bewegungen hat sie, mit denen sie die Tüten in den Kofferraum stopft und die Bierkiste vom Einkaufswagen zu den Tüten heben will.

Sie ist eine zierliche aparte Frau, aber eben wütend.

„Warten’S, ich helf‘ Ihnen“, sagt der Alois, stellt seine Tüte ab und packt die Kiste in den Kofferraum.

„Des is aber nett vo Eahna.“

„Gerne. Immer wieder.“

Sie lächelt. Zieht die Maske von den Ohren, zupft ein elegantes Taschentuch aus der Jackentasche und tupft sich das Gesicht ab.

„Es ist a Kreiz mit dene Maskn. I schwitz, dass ma ganz anders wead. I hoit des nimma aus.“

„Ich verstehe Sie gut, gnädige Frau.“

„Hom’S aa eikaaft?“

„Ja, ein bisserl was für den Abend.“

„Gehen’S zua, da ham’S an Euro. Weil’S so nett warn.“

„Vielen Dank, Gnädigste, das nehme ich nicht an. Aber nochmal: Vielen Dank, sehr freundlich.“

„Ja, wos denn? Nachad machmas anders: Nemmas doch drei Flaschl Bier. Mei Mo braucht net so vui, der is eh krank.“

„Ja, wenn Sie erlauben, dann bin ich so frei.“ Und so wandern noch drei Bier für die Bank, den Rückweg und gegen die Dehydration in Alois‘ Ikea-Tasche. Er freut sich narrisch. Die Dame sieht es und ist gleichermaßen vergnügt.

Man verabschiedet sich in aller Form. Man wendet sich.

Da stoppt die Lady und sagt, sehr nachdrücklich und sehr laut:

„Scheiß-Kinäsn, verreckte.“

Eine Passantin bleibt stehen und ist verdutzt.

Hohenleitner grinst und übersetzt:

„Die Gnädigste hat nur ihren Unmut über Chinas Machtpolitik zum Ausdruck gebracht.“

Achja. Die Passantin geht weiter. Die ältere Dame nickt zufrieden und steigt in ihren Benz.

Alois tapert, beladen wie ein Sherpa, in den Englischen Garten, arbeitet sich zum Seehaus voran, quert den Ring. Dann ist er gleich bei den Freunden.

Das war ein guter Tag. Der Abend kann kommen.