NULL ZUKUNFT

Krohn wird umziehen. Weg aus der lauten Stadt. Weg in die Welt. An den letzten 55 Tagen sieht er sich noch einmal um. Lokaltermine, jeden Morgen um dreiviertel sechs in Berlin und im Brandenburgischen. Tag 10, Krohn erinnert sich immer noch.

 

5 Uhr 45 am Spreebogen. Das Wasser kräuselt sich leicht, ein feiner Wind streicht ostwärts. Das wird wohl wieder ein warmer Tag, aber Wolken haben sich über die Stadt geschoben. Wird also ein grauer, drückender Tag. Hoffentlich bleibt wenigstens das Lüftchen.

Die Obdachlosen drehen sich in ihren Schlafsäcken noch einmal um, an den frühen Joggern stören sie sich nicht. In zweieinhalb Stunden müssen sie die Banken räumen, sonst werden sie von den Bullen verscheucht. Dann haben die Touristen Platzrecht, und die Penner müssen zusehen, wo sie bleiben.

Hans Krohn stützt sich mit den Händen aufs Geländer, er blickt hinüber zum Hauptbahnhof. Er schwitzt stark, fühlt sich prächtig dabei. Der Atem geht tief und leicht, der Körper fühlt sich stark und bereit an.

 

Jetzt wird er also bald nicht mehr morgens durch Berlin laufen. Eigentlich schade. Er mag es, dass er auf Straßen, durch Parks und über Plätze unterwegs ist, wo er schon fast am Boden war.

Es war eine böse Zeit, damals, als er nach dem langen Winter aus den brandenburgischen Wäldern zurück kam.

Noch war die Stadt grau-klamm, Krohn bezog ein Zimmer in Alt-Moabit. Wenn er auf die Straße trat, latschte er durch Matsch und giftigen Dreck. Die Leute standen mürrisch im Weg.

Hans Krohn fror noch Wochen nach der Rückkehr aus dem Alleinsein. Alles jenseits vom Bett machte Angst, alles außer TV war bedrohlich. Es machte Mühe aufzustehen und sich unter die Menschen zu mischen.

Alles kostete Kraft.

Die Anmeldung beim McFit.

Der erste Gang in die Bibliothek.

Der neue Handyvertrag.

Das Treffen mit dem überheblichen Bank-Lehrling.

Der Anruf bei Freunden von früher.

Die Tasse Kaffee in der Kneipe, wenn am nächsten Tisch das Bier stand.

Die Inspektion des Foto-Equipments – nichts war kaputt, er konnte loslegen.

Die ersten Aufnahmen.

Das Betteln um Aufträge.

 

Dann hatte er einen Job. Seit Jahren wieder. Für das Honorar hätte er früher nicht mal die Zeitung ausgetragen, nun machte er sich seufzend auf den Weg.

Er knipste Schlagersänger auf dem Roten Teppich. Die bekamen Preise und hatten schimmernde Gebisse. Konnten überhaupt nicht anders, sie lächelten einen mürbe.

Helene Fischer, wer hatte die nur so schön geklont?

Maite Kelly, warum war die so schamlos?

Beatrice Egli, war die echt?

Howard Carpendale, wann würde der zerbröseln?

DJ Ötzi, warum hatten den die Berge ausgespieen?

Karel Gott, ach Gott, der lebte ja immer noch?

Die jungen Frauen und Männer, die Krohn nicht kannte. Sie waren wohl allesamt sehr wichtig – er hätte mit Lust ihnen ihre Wichtigkeit aus den Gliedern geprügelt. Hans Krohn fotografierte zornig, noch eine und noch einen und noch welche.

Dann begann die Veranstaltung, ihm wurde die Tür zugeschlagen. Nicht mal ein Brötchen gab es.

Er schickte die Fotos in die Redaktion, hörte nichts, ein paar Wochen hatte er den Hungerlohn auf dem Konto.

Und musste um den nächsten Auftrag betteln.

Er musste viel betteln und seinen Stolz herunter schlucken.

 

Krohn blickt auf das Spree-Gekräusel und ist ein bisschen stolz. Sie hatten ihn an den Eiern gehabt, alle hatten ihn an den Eiern gehabt.

Er hatte beschlossen, dass er sich das nicht gefallen lassen würde.

Er erinnert sich an den Abend, als er im Fernsehen einen amerikanischen Krimi sah. Der Held, ein Ermittler mit einem verbeulten Leben, hatte alle Bars hinter sich gelassen und war wieder auf die Beine gekommen. Er war noch immer ein verletzter Mann, der sich Gefühle untersagte. Er kämpfte, ermittelte, er war auf der Seite des Rechts. Irgendwann fragte eine Frau – so eine richtig tolle – den Mann, wie es ihm wirklich gehe. Der Held schaute sie mit seinen blauen Augen lange an, dann sagte er: „Ich stehe auf. Ich atme ein und atme aus. Ich mache einen Schritt nach dem anderen. Mehr geht nicht.“

 

Hans Krohn erinnert sich genau, was er fühlte, damals.

Ja!

Denkt er.

Das war ich.

Wie eine Mumie war ich. Kein Entkommen.

Habe eingeatmet, dann wieder ausgeatmet. Und nochmal.

Wollte keine Mumie mehr sein.

Einatmen. Ausatmen.

Mehr ging nicht.