NEAPEL UND RETOUR

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN.

„Hast Du alles bekommen?“

„Denke schon.“

„Gut. Wie geht es Dir?“

„Alles okay.“

„Lüg‘ nicht! Hast Du Schmerzen?“

„Ein bisschen. Aber nicht schlimm.“

„Wenn wir nach Hause kommen, legst Du Dich hin. Du bist noch krank.“ Sie hat die Hand auf sein Knie gelegt. Fährt schlingernd aus dem Gewerbegebiet. Krohn grient.

„Was hast Du, was ist lustig?“

Er sieht sie an, sie konzentriert sich auf die Straße und kann sich gegen Krohns Starren nicht wehren.

„Ich kann’s nicht glauben“, sagt er. „Dass so eine tolle Frau so schlecht Auto fährt.“

„Porca miseria“ beginnt sie und lässt eine Tirade gegen Hans Krohn los. Unverwandt sieht sie auf die Straße und lenkt den Wagen in großzügigen Schleifen über die Gerade. Tausendundeinmal habe sie es ihm schon erzählt, mit welcher Grandezza sie zuhause die Fahrprüfung geschafft habe. In Neapel! Nach Neapel würden sie so einen wie den Krohn doch gar nicht mit dem Auto lassen, verloren wäre er da. Und sie habe nicht mal 30 Fahrstunden gebraucht, dann sei sie die Meisterin des Volants gewesen. Was er sich überhaupt einbilde, er der montanaro, der nur die Kurven in den Alpen fahren könne, er der macho, der den Frauen am liebsten den Führerschein zwicken würde, er, der Besserwisser…

Sie überschlägt sich fast. Wunderbar ist sie in Form. Sabrina liebt diese Nummer: Wenn er nichts mehr zu sagen hat und sich gegen ihr Italienisch-Sein so gar nicht wehren kann.

Krohn mag diese Augenblicke auch, sie weiß es. Er ergibt sich ihrem Presto-Prestissimo-con-Fuoco-Vivace-Vivacissimo-Affrettando-Incalzando. Eine Frau ohne Punkt und Komma.

Sie zählt auf, welche Autos sie schon gemeistert hat, dass sie sogar einmal ein Runde auf dem Nürburgring gedreht hat, auf dem Nürburgring, er wisse wohl zu schätzen, was das bedeutet. Dass sie alle Rennen von Michael Schumacher gesehen hat, als der für Ferrari fuhr. Dass sie…

„Und da willst Du mir erzählen, dass ich schlecht Auto fahre. Ich sollte Dich aus dem Wagen schmeißen, Du hast es nicht verdient, Dass ich für Dich den Chauffeur mache. Das hast Du echt nicht verdient. Den Papst könnte ich fahren, und er würde mir die Hände küssen.“

„Reicht schon, Sabrina, hast Recht, Du bist die Beste – und ich liebe Dich.“

Sie steuert den Wagen in einen Feldweg. Was das nun wieder solle?

Sie küsst ihn auf den Mund. Wenn er nicht dieses Dingsda in seiner Hose hätte, gurrt sie, dann wäre er jetzt fällig.

Krohn spürt die Erektion, sie ist unangenehm.

„Lass das, ist nicht gut.“

Okay sagt sie, ruckelt sich sittsam auf dem Fahrersitz zurecht, setzt den Wagen zurück, wendet, biegt wieder auf die Landstraße, die sich in langen Geraden eine Bresche durchs Moos schlägt. Sabrina konzentriert sich aufs Fahren, Krohn blickt ins Land. Auf den Feldern steckt der Mais die Spitzen aus der Erde. Ein Bauer hat einen Streifen Erde parat für Spargel gemacht, die akkurat gehäuften Reihen erinnern an Stretch-Särge. Ein Bussard hockt auf einem Zaunpfahl und hat alle Zeit der Welt. Die Berge im Süden haben noch weiße Gipfel, aus den Flanken ist der letzte Schnee verschwunden. Krohn denkt, dass er eigentlich jetzt dort hätte sein wollen.

Er sieht zu Sabrina, die sich konzentriert. Schön ist sie – man mag nicht glauben, dass sie bei ihr den Krebs gefunden haben. Er mag nicht dran denken, dass er sie in ein paar Tagen ins Krankenhaus bringen muss und sie ihr ein Stück des Körpers weg schneiden werden. Mag sich gar nicht ausmalen, wie das sein könnte, ohne sie.

Sie hat gespürt, dass er sie ansieht.

„Musst Dir keine Sorgen machen“, sagt sie. Ich mache mir auch keine.“

Hans Krohn weiß, dass sie lügt. Und sie weiß, dass er’s weiß.