LETZTE ZIGARETTE

sommer zwanzichfuffzehn XXVIII

Hans Krohn erzählte ohne Punkt und Komma. Es brach aus ihm heraus. Einmal fragte ihn Sabrina, ob er das alles schon aufgeschrieben hätte. Naja, manches ja, manches nein. Er hatte sich zum Beispiel vorgenommen, die Geschichten von den Frauen und Männern, neben denen er auf Berliner Bänken gesessen hatte, zu notieren. Aber das sei ein Projekt, mehr nicht.

Du musst das aufschreiben”, sagte Sabrina. “Sonst wirst Du es nicht los.”

“Ach, ich bin erstmal so froh, dass ich es Dir erzähle.”

“Ja, ich höre Dich gerne. Du warst bei den Menschen auf den Bänken.”

 

Dieter Weilands Trainingsanzug ist neongrün und aus schillernder Kunstseide. Sowas ziehen gerne mal die Russen-Machos am Samstagmorgen zum Einkaufen beim Aldi an.

Aber Herr Weiland geht nicht mehr zum Aldi. Wohl nie mehr.

Er ist mit dem Notarzt in die Charité gebracht worden. Die Ärzte haben hart ackern müssen, um Herrn Weiland im Leben zu halten. Noch einmal haben sie es hin bekommen. Der Patient ist auf die Intensivstation verlegt worden, nun liegt er seit ein paar Tagen in einem hellen Zimmer und lebt noch.

Der Krebs tut sich nicht mehr hart mit ihm. Dieter Weiland, der als Polier die schwersten Säcke ohne ein Wimpernzucken geschultert hat, spürt, wie die allerletzte Kraft aus seinem Körper tröpfelt. Alles fällt ihm schwer.

 

Es war ein großer Entschluss, das Zimmer zu verlassen und sich bis in den Garten vor zu kämpfen. Er schlurfte hinter seinem Rollator her, fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und fühlte die mitfühlenden Blicke der anderen Menschen im Aufzug. Der Weg in den Garten war weit und kraftraubend.

Nun sitzt Dieter Weiland, 57, keuchend auf der Bank und weiß, wie sein Sterben sein wird. Nichts mehr zu ändern. Seine Finger zittern sehr, als er die Packung aus der Tasche fischt. Er bekommt eine Zigarette zu fassen, steckt sie zwischen die Lippen, zündet sie mühsam – nach drei Versuchen klappt es endlich – an.

Gierig saugt er den Rauch an. Kurze Heiterkeit flackert auf, eine Art Optimismus gar. Herr Weiland ist erleichtert, dass er raucht.

Sein Ende ist nicht gerade ruhmreich. Dieter Weilands Gedanken gehen kreuz und quer. Wann sein Ende begonnen hat? Mit dem Auszug der Frau von Zuhause? Vielleicht. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen, dann hat sie den Rappel gekriegt und gemeint, das könne doch nicht alles sein. Und weg war sie, einfach so.

Da war er noch keine 50.

Aber wenn er es recht bedenkt: Das war damals nicht so schlimm gewesen. Er musste sich das Abendessen selbst machen, und Weihnachten war es recht einsam in der Wohnung – die Tochter hatte in den Süden geheiratet, also war Weiland am Heiligabend allein.

Er mag das Alleinsein nicht. Mit den Kollegen ist er immer gern nach Feierabend auf ein Bier gegangen. Ab und zu trank er zuviel, doch das hielt sich in Grenzen.

Schlimmer war diese Raucherei. Er konnte nicht davon lassen. Der Arzt hatte gemeint, wenn er nicht aufhörte damit, dann würde die Geschichte böse ausgehen. Er hat versprochen, dass er sich in den Griff bekommen würde, ist aus der Praxis gegangen und hat sich auf der Straße gleich mal eine auf den Schrecken angesteckt. Er hat auch ein paar Mal wirklich aufgehört und eine, zwei Wochen durchgehalten.

 

Aber das ist lang her. Dieter Weiland kriegt es nicht auf die Reihe: Er kann keinen Termin benennen, an dem er aufgegeben hat. Er erinnert sich nur, wie es sich angefühlt hat, als er aufgab. Er befand sich auf einmal neben sich selbst. Er sah sich und seiner Sinnlosigkeit zu. Was er tat, hatte keine Bedeutung; was die Anderen von ihm wollten, interessierte nicht, sie wollten es auch nicht von ihm, es konnte jedermann sein, er war unnütz, das war er. Ob er abends zum Biertrinken mit ging, ob er zum Kegelabend erschien, wann er die Weihnachtsfeier verließ, wurde nicht bemerkt. Er war da und er war nicht da.

Kein Mensch, kein Tier – Weiland war allein. Die Einzimmer-Wohnung heimelte ihn nicht an. Für eine Urlaubsreise fehlte die Energie. Dieter Weiland sah viel fern und hatte seine vier, fünf sechs Bier am Abend. Er rauchte mehr und mehr. Die Arbeit ging ihm nicht mehr leicht von der Hand. Dann war er kein Vorarbeiter mehr, sondern erledigte die Polen-Aufgaben. Schubkarre voll schippen, hin und her schieben, Wände aufmörteln, hier und da und dort aushelfen.

War auch egal. Seufzend machte er seinen Job und seufzend schleppte er sich in den Feierabend.

Bis er zum ersten Mal aus den Latschen kippte.

 

Da war es dann auch schon zu spät. Nun war er auf der Schussfahrt nach unten.

Er raucht noch eine. Das Herzrasen nervt, das Zittern geht ihm auf den Senkel. Dieter Weiland blinzelt in die Sonne. Es ist angenehm warm im Park der Charité, ein Zeisig tschilpt, auf der Nachbarbank sitzt eine aparte Schwarzhaarige und schmökert in einem Roman. Sie hat ein Gesicht, über das sich Weiland früher einmal gefreut hätte. So ganz ohne Absicht wäre das passiert – er hätte einfach Gefallen an der schönen Person gehabt.

Nun ist sie ihm gleichgültig. Ihm ist alles egal. Er wird sterben. Nicht jetzt, auf der Bank. Wahrscheinlich auch nicht in dieser Nacht. Vielleicht lassen sie ihn auch noch einmal raus. Dann wird er zuhause auf seinen nächsten Zusammenbruch warten.

Ein Ende ist in Sicht. Jetzt dauert es nicht mehr lange. Ein paar Schachteln noch.

 

Oder so.