LAST MAN STANDING

Startschuss: 17. August 2019, 6.00 Uhr. Zielschluss: 18. August 2019, 12.00 Uhr. Dazwischen: 160 Kilometer zu Fuß rund um Berlin. Das Event heißt “Mauerweglauf”. In “Vettensjournal” das Protokoll der Vorbereitung. Es beginnt am 9. März 2019 und endet am 17. August: 22 WOCHEN. 

Krohn notiert, 9. August

Die Sonne lugte über den Ostwall des Sees, sie hatte einen imposanten Auftritt. Ich habe es sehr genossen, denn plötzlich schwamm ich nicht mehr in grauem Gewässer, sondern folgte einer fast golden strahlenden gekräuselten Bahn. In Ufernähe kreuzte ein Schwanenpaar, unweit sprang ein Karpfen und ließ sich seitwärts ins Wasser zurück fallen. Ein Haubentaucher mandelte sich auf und sträubte das Gefieder.

Das Ganze illuminiert von der morgendlichen Sonne.

Am Ufer sah ich einen Menschen. Gebeugter Rücken. Ein alter Mann wohl. Zwei Skistöcke fingen seine kurzen Schritte ab. Der Mensch setzte die Füße langsam, mühevoll – er kam zäher vom Fleck als ein Schwimmer.

Jetzt führte ihn der hellgekieste Weg eine sachte Steigung hoch. Die Schritte des alten Mannes wurden noch kürzer. Aber er machte keine Pause. Unbeirrt setzte er seinen Kampf gegen das Stehenbleiben fort.

Soviel Mut, was für ein Wille!

Ich habe dann nicht mehr hingeschaut, weil ich mich geniert habe. Der Mann wollte wahrscheinlich nicht, dass ihn jemand so sah. Also guckte ich auf das goldene Wellen-Gekräusel vor mir und schwamm in die Sonne.

Eine halbe Stunde später trocknete ich mich ab – und aus einem Wäldchen kämpfte sich der alte Mann auf den Strand zu. Ihm gehörte das Elektrorad, das in der Nähe aufgebockt war. Der Mann war nicht schneller geworden und nicht langsamer. Nur der Rücken schien noch mehr gekrümmt. Ich dachte an Kreuzwege und Jesus-Darstellungen, ich hatte dramatische Assoziationen.

Da sagte der Herr – und er klang quietschvergnügt, die Stimme war hell und frech:

„Servus, habe die Ehre, auch schon unterwegs, so früh?“

Ich ging, den Kopf frottierend, auf ihn zu. Er hatte mich ermuntert, man durfte mit ihm reden. Einen schönen guten Morgen wünschte ich meinerseits, ich hätte ihn beim Sport beobachtete – er grinste freundlich. Ja, das sei ein herrlicher Morgen am See. Ob er aus der Gemeinde komme? Er nickte, meinte dann:

„Ja, da geht‘s einem gleich besser, wenn man sein Sach‘ gemacht hat.“

Ich sagte nichts. Er erklärte:

83 sei er, bis vor zehn Jahren habe er noch reellen Sport treiben können. Dann habe es ihn erwischt. Zwei Herzkasperl hintereinander, ein Nervenleiden, vor vier Jahren der Unterschenkelhals.

„Des war net schee. I soi langsam toa, hat der Dokta gsagt. So ein Schmarrn, wo woaß denn der?“

Er sieht bockig aus, als er das erzählt.

„Wia i ausm Krankenhaus bin, hob i im Rollstuhl gsessn, und alle ham gmoant, des war’s.“

Die Frau ist ihm weg gestorben in der Zeit, die Freunde hat es derwackt. Aber er hat sich nicht ganz aufgeben mögen. Er hat seine Doppelhaushälfte, da wohnt mittlerweile eine nette Frau aus Polen bei ihm, die die Wirtschaft führt und sauber macht. Sie ist Kassiererin und unterhält ihre Familie in der Heimat. Und weil sie keine Miete zahlt haben beide was von dem Arrangement.

Ihm geht es gut, eigentlich. Morgens hat er keinen rechten Schlaf, deswegen steht er schon um fünfe auf und macht seinen Sport. Meistens ist es die Runde um den See – für die drei Kilometer braucht er eine gute Stunde. Dann zockelt er mit dem Radl nach Hause, beim Bäcker nimmt er zwei Brezn mit. Er frühstückt genüsslich, studiert seine Zeitung. Danach macht er ein Nickerchen, wärmt sich etwas zum Essen auf. Zweimal in der Woche trifft er sich mit ein paar anderen Alten zum nachmittäglichen Stammtisch. Ansonsten schaut er fern, mal fährt er auch mit der S-Bahn in die Stadt. Einmal in der Woche telefoniert er mit den Kindern, an den Feiertagen besuchen sie ihn. Abends kümmert sich seine Polin um eine Brotzeit (wenn sie nicht gerade die Spätschicht im Supermarkt hat oder auf Heimaturlaub ist). Er macht sich ein Bier auf, es können schon drei, vier Halbe werden (mehr nie) – und meistens schläft er im Fernsehsessel ein.

„Des is nimma vui“, sagt er, als ob er sich entschuldigen wolle. „Aber mir glangt’s.“

Früher hat er in einer Werkzeugfirma die Geschäfte geführt. Dazu die Arbeit am Haus. Die Kinder. Die Frau. Die Urlaube. Im Trachtenverein ist er auch gewesen. Und dann der Sport und das Bergsteigen. Er war allweil auf Achse.

„Geht halt alles nimma. Aber des macht mir nix. I hob ois ghabt.“

Jetzt sehe er zu, dass er sich nicht wieder den Unterschenkelhals breche. dass er es jeden Tag aus dem Bett schaffe und seine Runde drehe. Dann sei er glücklich.

Wieder ein Tag gelebt.

Noch einmal die Sonne gehabt.