KUSSVERBOT

ENDZEIT 9 Einer kreuzt unbeirrt die Altstadt Freisings. Ab und zu bleibt er stehen und trinkt einen Schluck – er säuft Stereo, mal kleinweise Wodka, mal gegen das Dehydrieren Augustiner. Er bricht sich seinen Weg vorbei an den locker zur Schlange formierten Menschen vor einer Metzgerei. Sinnend bleibt er vor der Eisdiele stehen, schüttelt dann energisch den Kopf. Nein, kein Gelato, passt nicht zu den Getränken. Er sieht hinüber zu einer hübschen jungen Frau, die in die Luft schaut, himmlisch lacht und etwas sagt.

Der Trinker denkt nach. Sind sie nun alle verrückt geworden? Auch die hübschen Mädels? Schade eigentlich, so eine Fesche. Und redet mit sich selbst.

Er sieht genauer hin.

Nein, die junge Schöne ist nicht im Selbstgespräch, sie telefoniert. Freisprechanlage. Sie schaut auch nicht in den Himmel. Sie blickt zu einem Dachfenster im dritten Stock des Hauses.

Obere Hauptstraße 42. Unten ist der “Furtnerbräu”, obendrüber logieren Bürgeliche, unterm Dach wohnen Studenten und Einschichtige mit wenig Geld. Es ist kein auffälliges Haus, 1886 hat es hier gebrannt und alles musste wieder aufgebaut werden. Seither hat sich nicht mal im Großen Krieg vor 80 Jahren viel verändert.

Jetzt dürfen die Leute das Haus an der Oberen Haupstraße 42 nicht verlassen. Das hat etwas Historisches.

Der junge Mann im dritten Stock hat sich die Haare sorgsam nach hinten gegelt und den Bart liebevoll getrimmt. Er sieht nett aus, wenn er lächelt – und er lächelt oft. “Schatzi” nennt ihn die Frau auf dem Trottoir. Sie erzählt von ihrer älteren Schwester, die mit ihrem Mann gestritten hat, weil der sich nicht um die Kinder kümmert. Sie klagt, dass man eigentlich heute Abend ins Kino hätte gehen wollen, und jetzt müsse man diese saublöde Unterhaltung über die Straße führen. Und sie fürchte, dass das noch eine Weile so dauern würde.

Ihr Freund im Fenster lacht. Er wirft ihr eine Kusshand zu.

Sie küsst zurück, hat sich wieder beruhigt. Monologisiert nun über die fürchterliche Langeweile. Sie habe eine Netflix-Serie in einem Rutsch angesehen – danach fühlt man sich beschissener als vorher. Aber was soll man machen? Irgendwie muss man die Zeit tot schlagen.

Das “tot schlagen” amüsiert ihn. Er sagt etwas. Sie lacht.

“Ach, ich vermisse Dich.”

Der Trinker mag es nicht mehr hören. Er nimmt einen Schluck Wodka. Tankt sich weiter, Altstadt-auswärts. An einer Bank stoppt er. Blickt sich um. Weit und breit keine Bullerei. Mit den Polizisten mag er zur Zeit nicht aneinander geraten, deswegen sieht er sich vor.

Er macht es sich gemütlich. Zieht die “Bild” aus seiner Tragetüte. Liest mit Behagen.

Wenn man es so aus der Distanz verfolgt, ist das Ganze ein bizarres Geschehen. Aber okay. Der Trinker mag Katastrophenfilme. Er blättert und schaut auf ein großes Foto vom Bodensee. Eine Frau und ein Mann knutschen durch einen Bauzaun.

“Kuss-Verbot” schreibt die “Bild”. Und weiter: “Polizisten verjagen Liebespaare”.

Arme Schweine, die alle, denkt der Trinker. Die ham echt ‘ne harte Zeit. Gut für ihn, dass der Fusel nicht knapp wird.